Inhaltsangabe:
I.
Vorwort |
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II.
Einleitung |
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III.
Der Fall des Dichters Lenz?
Eine interdisziplinäre Annäherung |
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IV.
Forschungspositionen und Krankheitsmodelle |
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V.
Poetische Grenzgänge zwischen radikalem
Freiheitstrieb und reflektiertem Selbstverlust |
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VI.
Hermeneutik, Diagnostik und Kulturanthropologie
als methodologische Skizzen |
52
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VII.
Resümee |
91
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VIII.
Literaturverzeichnis |
93
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I. Vorwort
Die Frage nach dem Verhältnis von geistiger Konstitution eines
Schriftstellers und der Entstehung seiner Texte ist - gerade dann, wenn
es sich um psychologisch extreme Fälle oder gar um Fälle von
Geisteskrankheit handelt - nicht eine genuin literaturwissenschaftliche.
Damit wird, wenn sie nicht sogleich in eine bestimmte interdisziplinäre
Betrachtungsart versetzt wird, verschärft fragwürdig, welche
wissenschaftliche Fragestellung dem Fraglichen angemessen wäre,
ein Umstand, den wohl nur eine kritische Methodologie recht zu bedenken
vermöchte.
Wie die Infragestellung wissenschaftlich auch bestimmt werden mag, es
bleibt wohl stets zu fordern, dass sie die Reflexion auf sich als Infragestellung,
d. h. auf ihre eigene kritische offene Fragwürdigkeit, auf die
beanspruchten Urteile und Voraussetzungen und auf die mögliche
kritische Maßgeblichkeit des zu untersuchenden Gegenstandes, an
sich hat. Wissenschaft als begreifendes Denken kann im Zusammenhang
mit dem Verstehen, dem Sichversetzen in das zu Verstehende, gerade auch
in das Fremde, stehen und in dem Wechselbezug mit ihm, vermittelt in
dem reflexiv Kritischen der Methode, sich selbst und ihr der Sache angemessenes
Verhältnis bestimmend gewinnen.
Der Gedanke des Zusammenhangs von Begreifen und Verstehen ist nun insofern
mit der literarischen Produktion und ästhetischen Reflexion des
Sturm und Drang verwandt, als in dieser Epoche erstmals der Ausdruck
der Seele und des Geistes des Dichters in seinem Werk und die mögliche
verstehende Übereinstimmung des Rezipienten mit dem Werk, mit der
Seele, dem Geist des Dichters als fundamental und als maßgeblich
für die Reflexion beansprucht worden sind. Schon im Konzept der
Empfindsamkeit findet dieser Anspruch einen ersten begrifflichen Niederschlag.
Zugleich bleibt aber auch dem Sturm und Drang die Differenz zwischen
empfindend erlebenden Verstehen und bestimmend begreifenden Denken problematisch
ungeschlichtet. Noch die auf eine ursprüngliche Produktivität
eingeschworene Konzeption des Genies der Zeit, die anscheinend die substanzielle
Einheit des Menschen verbürgen kann, bleibt von einer problematischen
Differenz durchzogen.
Problematisch bleibt dem Sturm und Drang die Produktivität der
menschlichen Seele durch die unüberwundene Differenz zwischen dem
Genie als einer unverfügbaren göttlichen Macht der Belebung,
Beseelung und Begeisterung, welche dem Menschen zu Zeiten wirkend innewohnt
(genius, daimwn) und dem Genie als ein dem Menschen selbst eigenen originalen
Vermögen zu wesentlicher Leidenschaftlichkeit, zum Schaffen von
maßgeblich Neuem und zur geistigen Durchdringung und Einsicht
(ingenium). Wenn auch beansprucht wird, dass Genius und Ingenium unendlich
harmonisch und schöpferisch zusammenwirken, Notwendigkeit und Freiheit
in dem ebenso bedingten wie unbedingten Menschen vereinigt werden können
und der Mensch somit seine Bestimmung zum Halbgott zu erfüllen
vermag, so werden doch diese Vorstellungen nicht nur an der Kluft zwischen
Empfinden und Handeln, Wollen und Vollbringen, zwischen grenzenlosem
Seelenleben und endlicher Handlungswirklichkeit strittig, sondern auch
an der Erfahrung endlichen Daseins überhaupt, an der Vergänglichkeit
des Natürlichen und dem Scheinhaften der Kunst sowie an der Unerfülltheit
der Liebe und dem Widerstand der Gesellschaft.
Beispielhaft entspricht dem die unüberwundene Widersprüchlichkeit
der Seelenvermögen von Empfinden, Wollen und Denken in Goethes
Werther-Roman, und auch die moralische Hinterfragung des Geniegedankens
in Eduard Allwills Papiere von Jacobi, Heinses Kunstreflexion in seinem
Ardinghello oder Moritz' Frage nach der Bedeutung des Symbolischen in
seinem Andreas Hartknopf sind Beispiele für das bezeichnete Problem.
Damit verbunden ist die Einsicht in den produktiven Wert des Unabgeschlossenen,
des Fragmentarischen und zugleich in die Schwierigkeit, jenen ersten
Schritten ins Ungesicherte und Fragmentarische systematisch zu folgen.
Wenn der Stürmer und Dränger Jakob Michael Reinhold Lenz Momente
des inneren Widerstreits erleidet, so erfährt er diese Spannung,
ihre Entwicklung und Bearbeitung, unter einer völlig anderen Gewichtung
erkenntnistheoretischer und religionsphilosophischer Bilder, als sie
zwei Jahrhunderte später für viele auch nur denkbar geworden
sind. Eine angemessene und hinreichende In-Frage-Stellung von Lenz'
Existenz muss sich notgedrungen mit einer einlässlichen Interpretation
seiner Äußerungen, vor allem der Briefe, verbinden. Will
man jenes tragikomische "Gemisch von Helldunkel", wie Lenz
das Befinden des Protagonisten Herz im dritten Teil des Waldbruders
selbst charakterisiert, annähernd begreifen, so gilt es Begriffe
und Kategorien für das, was den Dichter bewegt, zu finden und zu
bilden. Das aber ist nicht allein mit einer Hermeneutik sprachlicher
und literarischer Texte zu leisten, liegt doch das in Frage Stehende
über Sprach- und Literaturwissenschaft hinaus. Vielmehr ist zu
versuchen, ausgehend von einer hermeneutischen Betrachtungsweise zu
fortgeschrittenen, gegenwärtigen Begrifflichkeiten und begrifflichen
Vorstellungen zu gelangen, die es erlauben mögen, sich Lenz zu
nähern.
Die vorliegende Arbeit unternimmt dies, mit einem kritisch-methodologischen
Problembewusstsein, aus dem gemeinsamen Blickwinkel von Literaturwissenschaft
und Klinischer Psychologie; sie kann als ein neuer Weg in der Lenz-Forschung
angesehen werden, sich diesem bis heute virulenten Fragenkomplex zu
stellen.
Gerhard Buhr
II. Einleitung
Der Anstoß zu der vorliegenden Arbeit geht zurück auf die
Untersuchungen, welche ich im Zusammenhang meiner Dissertation Begehren
und lyrische Potentialität unternommen habe. Bei meinen Bemühungen,
den oftmals verborgenen motivischen Voraussetzungssinn im Werk von Jacob
Michael Reinhold Lenz aufzufinden, wurde mir zunehmend bewusst, wie
außerordentlich schwierig es ist, seine Texte nicht nur disparaten
Deutungsperspektiven oder einer historisch klassifizierenden und damit
schlichtenden Interpretation zu unterwerfen, sondern zwischen den produktionsästhetischen
Modellen und Entwürfen auch die Leerstellen, das Paradoxe und Ungesagte
im Schaffen dieses Dichters als eigenständige und zugleich der
Textur inhärente poietische Größe zu begreifen. So wie
die Aufklärung selbst durch die Generation der Stürmer und
Dränger Antworten auf Fragen erhielt, und nicht nur sie, welche
sie sich so niemals gestellt hatte, erfährt dieser Dichter an den
Rändern seines Denkens die Unmöglichkeit das von ihm Beanspruchte
geschlossen zu verwirklichen.
Die Dichtung des Sturm und Drang, der dieses Problem grundsätzlich
vertraut ist, erhält jedoch gerade durch Lenz' Persönlichkeit
eine höchst individuelle Signatur. Nach wie vor erscheint mir vor
allem Georg Büchner ihr in seiner Novelle Lenz kongenial am nächsten
gekommen zu sein.
Eine Literaturwissenschaft, die auf der Suche nach konturscharfen Modellen
und Antworten ist (und es auch sein muss), übergeht oft ihr eigenes
historisches Gewordensein. Ihre Hermeneutik fokussiert dabei zumeist
Verfahren, die zwischen wohlbekannten Topoi changieren; die ihre Gültigkeit
innerhalb der wissenschaftlichen Disziplin oder besser innerhalb des
bewährten Diskurses der Disziplin ihren Wert oft erweisen - sich
darüber hinaus jedoch nicht selten mit ureigensten Untersuchungsgegenständen
schwer tun, wenn diese die Ränder des Metiers besiedeln. In einem
solchen Sinne ist diese Arbeit auch als ein Supplement zu meiner ersten
Arbeit über Lenz zu begreifen.
Immer wieder fiel es mir schwer, die Positionen, welche die bisherige
Forschung zur psychischen Befindlichkeit Lenz' vertrat, zu teilen. Das
mitunter offensichtlich pragmatische Ringen zwischen Forschungspositionen
wagt es dabei kaum, in aller Offenheit die eigene methodische Relativität
offen zu legen. Doch insbesondere an der Frage nach Lenz' geistigem
Zustand entzündet sich ein Konflikt, der mir in außerordentlicher
Weise geeignet erscheint, das Fragwürdige und zugleich Innovative
seiner Poetik darzulegen. Die Forschung steht, was ihren interdisziplinären
Charakter angeht, hier nach wie vor am Anfang.
Im Zusammenhang meiner Rigorosa verwendete ich einige Zeit darauf, den
bereits bekannten Problemstellungen zu diesem Thema aus Sicht der Klinischen
Psychologie nachzugehen. An dieser Stelle sei Professor Hans-Joachim
Ahrens gedankt, dass er mir dieses Spezialthema zugestand. Vielerlei
spezifische Anregungen entnahm ich dem Seminar von Professor Reiner
Bastine, dem ich darüber hinaus auch für die Durchsicht des
Manuskriptes danken möchte.
Auch gegenwärtig erscheinen immer neue Aufsätze und Arbeiten
über den wahnsinnigen Lenz; nicht alle davon habe ich aufgegriffen.
Ursprüngliche Absicht war es, einen Essay zu schreiben, der die
mir am wichtigsten erscheinenden Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte
typisch resümiert und einer neuen Bewertung unterzieht sowie die
Perspektive der kulturanthropologischen Diagnostik in die Diskussion
mit einbringt. Es erscheint mir unerlässlich, die Fortschritte
der Klinischen Psychologie und der psychiatrischen Krankheitsmodelle
in der Germanistik besser publik zu machen.
Es ist beachtenswert, welche methodische Offenheit sich auf diesem Gebiet
mittlerweile zeigt: Neben einer dezidierten Phänomenologie und
den exakt formulierten Fragen nach der Differenz von Kausalität
und Bedingungsgeflechten, nach Positionen und Prätentionen von
Forschenden, bleibt für die Lenz-Forschung auch die erweiterte
Nomenklatura als ein brachliegender Bonus zu begreifen. Als ein Bonus
freilich, der einer gewissen Einarbeitung und auch inhaltlicher Offenheit
bedarf, wie umgekehrt dem Psychologen oder Mediziner vorab nicht jene
entscheidenden Frakturen bekannt sein können, wie sie erst eine
intensive Beschäftigung mit dem Werk ausweisen.
Der Text trägt, auch wenn er eine abschließende inhaltliche
Gliederung erfuhr, um nicht als ein allzu monolithischer Block in Erscheinung
zu treten, nach wie vor unverkennbar das stilistische Gepräge eines
Großessays.
Abschließend möchte ich Agnes Cramer danken, die trotz Prüfungsbelastungen
Zeit fand mein Manuskript gegenzulesen und mir wertvolle inhaltliche
Anregungen gab. Sie hat (nicht allein) hiermit wieder eine Lanze für
das Stehvermögen der Alleinerziehenden gebrochen. Auch Michael
Dolch sei an dieser Stelle für seine gründlichen Korrekturhinweise
gedankt. Mein ausgezeichneter Dank gilt Professor Gerhard Buhr, der
wie stets meine wissenschaftliche Arbeit in jeder Hinsicht großzügig
gefördert hat.
Johannes Schnurr
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