"Eine Figur, welche keine Abnehmer findet, wird Fehler."
Gedanken am Rande des bedeutsamen Werks. Poetik bei Goethe, Rimbaud
und Nietzsche.
1.
Was ein Bestseller sei, darauf lässt sich eine so rasche wie eindeutige
Antwort finden. Wir müssen einzig und allein das von der Marktforschung
präzise ermittelte Wochen- und Monatsranking in den einschlägigen
Zeitschriften und Branchenpublikationen begutachten. Die Verkaufszahlen
der meisten neueren Werke finden sich dort nach Kategorien gelistet,
präsentieren sich hierarchisch und thematisch systematisiert, sind
etwa in profanere Belletristik und Anspruch machende - oder machen sollende
- Sachliteratur geschieden. Sie weisen aus, was gegenwärtig als
Lektüre beim Leser gefragt ist und auch was schon nicht mehr, geben
uns Auskunft darüber, was in Inhalt, an literarischer Form, als
Produkt und Produktion gleichermaßen die Wahrnehmung der Öffentlichkeit
in weiten Teilen bestimmt.
Die Macht der Zahl schafft hier eine zugleich organische Eindeutigkeit
wie eine klar strukturierte Gegenwärtigkeit, welche wir ansonsten
in vielen literaturtheoretischen wie literarhistorischen Zusammenhängen
nachgerade schmerzhaft vermissen. Zwar vermuten wir, dass es ganz so
einfach nicht sein mag, doch finden wir uns in der unabweislichen Versuchung,
dieser überwältigenden numerischen Realität zuzugestehen,
dass sie als schiere Masse, als konkreter unbezweifelbarer Verkaufserfolg
auch de facto in der Lage sein muss, uns über die umgebende literarische
Wirklichkeit in besonderer Weise zu informieren. Kein anderes Kriterium
scheint in der Lage, eine auch nur annähernd vergleichbare Objektivation
über Wert und Bedeutsamkeit des geschriebenen Wortes zu leisten.
Was wirkt, weshalb etwas wirkt, welches Werk sich Bahn bricht und sich
Gehör verschafft, wird in diesen Listungen gewissermaßen
schwarz auf weiß kenntlich, wie auch der Umkehrschluss gelten
muss, dass, was erst einmal in solcher Zahl auf dem Markt angekommen
ist und weiter auf ihn drängt, ganz unweigerlich dynamisch wirkt,
nachhaltig ausstrahlt. Dass jeder Beststeller, jeder Klassiker die Gesellschaft
anregt, sich selbst in einer ganz bestimmten rhetorischen Art und Weise
zu reflektieren.
Eng verbunden mit diesen Umständen erscheint uns denn auch das
implizite Werturteil, welches der Bestseller konstituiert. In planer
Analogie zu jeder Art von Evolution steht hinsichtlich seines pulsierenden
Wesens zu vermuten, dass auch auf dem Buchmarkt sich nur das inhaltlich
Beste, das Interessanteste, die Qualität schlechthin durchsetzt.
Freilich nicht immer auf Anhieb, so aber doch sicherlich vor einem gewissen
Zeithorizont. Günther, Lenz und Hölderlin seien als Garanten
dieses oft langwierigen und heimlichen Prozesses berufen. Bedeutsame
Werke mäandern oft still unter der Oberfläche des Vergessens,
wie uns die Literatur- und Philosophiegeschichte immer wieder lehrt.
Das Gute und Wahre kommt jedoch unweigerlich ans Licht, es findet, auch
wenn es lange währen mag, das Ohr und Auge der Nachwelt. Was hingegen
nicht taugt, Stoff der langweilt, der schlecht informiert, ein Werk,
welches nur Marginalien ausspricht, das Epigonales und wenig Markantes
zu bieten hat, fällt immer unter den (Laden-)Tisch. Treibt auch
nicht wieder, treibt so oder so niemals aus. Mit anderen Worten: Die
Seitenzweige der literarischen Entwicklung sterben gründlich ab,
zeigen sich dem immer virulenten Prozess der Verdrängung durch
Anerkanntes nicht gewachsen. Offenbart sich in Achsenzeiten die epochale
Krisis des hergebrachten Denkens, stehen daher stets Atavismen genug
bereit, um rasch alte Formen zu überlagern, um aus den in Archiven
und Dachgeschossen erhaltenen, halberstarrten Archetypen umgehend brauchbare
und bessere Muster zu prägen. Auch wenn wir nicht leichtfertig
von objektiven, zugleich entwickelnden wie scheidenden Prozessen sprechen
mögen, so wird hier doch unzweifelhaft ein erstaunlicher Grad an
Übereinkunft, an sozikultureller Repräsentanz erreicht. Das
Werk betritt eine Bühne, auf der in gelegentlich dramatischen Umschwüngen
sich die eklektizistische Spreu zuverlässig vom originalen Weizen
scheidet. Survival of the fittest', dieses Prinzip gilt auch für
alle Arten der Schriftstellerei, sonst wäre ein solcher Erfolg
bei den Lesern doch völlig undenkbar. Oder? Der Spannungsbogen
muss in jedem Moment vor dem Auge des Publikums gehalten werden, und
nur ein motivisch starker Text vermag dies dauerhaft zu leisten. Nur
die echte innere Anlage, die originale Konzeption kann eine starke und
dauerhaft ins Zentrum weisende Kraft entwickeln. Den Wert eines Werks
können und dürfen wir damit zunächst immer nur als den
Wert einer konkreten Wirkung begreifen. Dieser Wert, diese Vorgabe geht
auf den Lesenden über. Er erfährt seine affirmative Bestätigung
oder eine endgültige Restriktion. Er erweist sich weitergehend
in einem Aufnahmeprozess als resultierende Rückwirkung auf den
Markt, als Verkaufserfolg oder als publizistischer Fehlschlag, verschafft
ihm damit immer wieder erneuerte und erweiterte Breitenwirkung, hebt
oder senkt es fortwährend in seiner Bedeutung, leitet eine nachhaltige
Aufnahme ein oder unterbindet sie a priori.
2.
Dass es sich jedoch nicht immer ganz so gerade und gerade so im weiten
und bunten Lande der dichterischen Einfälle und kreativen Schübe
verhalten mag, und dass uns damit bei aller kritischer Bemühung
bereits an dieser Stelle einige Begriffe allem Anschein nach gründlich
durcheinander geraten sind, dies wird zunehmend deutlicher. So sei hiermit
die so prägnante wie suspekte These über die Eindeutigkeit
des Wesens des Bestsellers verabschiedet: Ich gestehe, ich weiß
es nicht, was es mit diesen eigentümlichen literarischen Produktionen
auf sich hat. Ich staune ihre Zahlenmagie zwar an, wie viele andere
Lesende und Schreibende auch, aber zu erklären vermag ich mir diese
geradezu wundersam scheinenden Vorgänge und Wirkungen mit alle
ihren Folgen, Fernwirkungen und Umlenkungen keineswegs.
Doch um weiter bei der Wirkung eines Werks zu bleiben, die meisten dieser
Bestseller interessieren mich persönlich in keiner Weise. Es steht,
so weit ich dies zu beurteilen mag, herzlich wenig in ihnen, das in
mir beim Lesen eine Resonanz, eine Überraschung, ein frohes Erstaunen
hervorriefe. Was in meinem persönlichen literarischen Universum
Rang und Namen hat, wäre für die meisten Konsumenten belletristischer
Texte jedoch ebenso sehr schiere Qual. Diese Behauptung sei ohne alle
Wertung vorgebracht, sondern zunächst einzig als eine Fixierung
und Feststellung des je Gelesenen. Der Kanon des so genannten Bedeutsamen
erweist sich keineswegs als so eindeutig und so fest, als es auf den
ersten und vielleicht auch auf den zweiten Blick scheinen mag. Alles
Sprechen über bedeutsame Werke bleibt brüchig, gefärbt,
subjektiv. Was heute gilt und gelesen wird, ist morgen vergessen, innerhalb
der Gesellschaft wie der eigenen Biografie finden rasche und abrupte
Wechsel statt. Dies meint der Gedanke über die Macht der Definition,
über den subtil freisetzenden Charakter, der ihrem Muss'
entspringt. Er offenbart sich als eine vielgestaltige und restriktive
Unzulänglichkeit mit eminent unterschiedlichen Anknüpfungspunkten
für das Künftige. Das Geschmacksurteil ist ein je einzigartiges,
in seiner Rede auf ein Allgemeines übersteigt es und überhebt
es sich stets und immerzu. Es wird sich dessen jedoch meist nur schwach
bewusst, wird durch seinen globalen Anspruch immer wieder erneut unwahr,
verengt den forschenden Blick durch seine Natur unweigerlich doppelt.
Ich möchte diesen so benannten Umstand in der Summe seiner Beziehungen,
Besitzungen, Mängel wie konstitutionellen Lücken als die erste
Ambivalenz des bedeutsamen Werks bezeichnen.
Goethes Werther endet mit einem lapidaren Satz: "Kein
Geistlicher hat ihn begleitet". Gelehrte Interpretationen versuchen
ihn aus dem vorausgegangenen Geschehen zu deuten, sei es als Absage
an jene normierte Gefühllosigkeit der aufgeklärten Epoche,
wie sie sich in den eher pragmatischen denn erotischen Eheverhältnissen
konstituierte, als religionskritische Aussage gegenüber einer dogmatischen
Glaubensgemeinschaft, welche dem Selbstmörder das letzte Geleit
verweigert oder als exemplarische Konsequenz einer die Gesellschaft
durchherrschenden Ungeistigkeit, die die disparaten Momente "Herz"
und "Verstand", "Seele" und "Gefühl"
nicht zu vereinigen wusste und die dem wahrhaftigen Individuum ein solches
Opfer verzweifelt notwendig werden lässt. Dies sind nur einige
der in diesem Zusammenhang möglichen Interpretationen und sie stehen
unter den Vorzeichen einer vielfach reflektierenden geschichtlichen
Distanz.
Wichtig wird im Zusammenhang des Werther aber vielmehr zunächst
dessen Wirkung auf die Zeitgenossen. Das Publikum verstand den jungen
Goethe unmittelbar. Im Frühjahr 1774 in kurzer Zeit niedergeschrieben,
im Sommer bereits zur Michaelismesse in Leipzig veröffentlicht,
wurden noch im selben Jahr aufgrund des reißenden Absatzes zwei
weitere Ausgaben des kleinen Briefromans notwendig, im Jahr darauf sogar
eine dritte und ebenfalls ab 1775 kursierten bereits die ersten Raubdrucke.
Das ist der Stoff, aus dem Bestsellerträume gemacht sind: Ein anonymes
Werk begeistert die Jugend massenhaft, trifft den Nerv der Zeit und
legt ihn aufs Empfindlichste bloß. Es hebt seinen Autor mit einem
Donnerschlag aus völliger literarischer Bedeutungslosigkeit ans
Licht und in das Bewusstsein der Öffentlichkeit, schafft ihm Verleger
und ein erstes Auskommen. Nicht unbedingt mit erwünschten Folgen.
Der bewegende Charakter der Leidensgeschichte' ruft eine dem Autor
bei allem Erfolg unliebsame Reaktion hervor. Das hohe identifikatorische
Potenzial überträgt sich höchst virulent aus dem Bereich
der dramatischen Gestaltung in jenen der tragischen Wirklichkeit. Das
so genannte Wertherfieber', eine ungebührliche Vermengung
von Phantasie und Tathandlung, führt zu mehreren spontanen Selbstmorden
aus unerfüllter Liebe. Goethe hat angeblich nie wieder aus dem
Werther vorgelesen. Noch in Dichtung und Wahrheit
beklagt er die unselige Wirkung seines ersten großen Werks: "Wie
ich mich nun aber dadurch erleichtert und aufgeklärt fühlte,
die Wirklichkeit in Poesie verwandelt zu haben, so verwirrten sich meine
Freunde daran, indem sie glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit
verwandeln, einen solchen Roman nachspielen und sich allenfalls erschießen;
und was hier im Anfang unter wenigen vorging, ereignete sich nachher
im großen Publikum
"
Die frenetische Aufnahme wie auch die damit zusammenhängende geistige
Erschütterung, die gerade in ihrer Zweischneidigkeit ihr völliges
Ausmaß zeigt, sind es also, welche hier den Wert des bedeutsamen
Werks bestimmen und ihm auch bis heute einen nahezu unbezweifelten Rang
einräumen. Mag die ablehnende Haltung des Autors im Nachhinein
gedeutet werden wie sie mag, dieser erste Roman blieb für Goethes
literarische Karriere bestimmend. Ob ohne diesen Erfolg sein Lebenswerk
in vergleichbarer Weise Annahme und weiter Anerkennung gefunden hätte,
darf bezweifelt werden.
3.
Neben dieser besonderen Form einer je und je zeitgemäß positiven
Rhetorik, einer Sprache aus dem Zentrum der Gegenwart an die Gleichzeitigen,
welche unmittelbar verstanden und aufgegriffen wird, gibt es den Fall
des historisch mittelbaren Zugriffs, der literarischen Unzeitgemäßheit,
in der das Werk erst im Nachhinein erkannt und vernommen wird. Meistens
hat diese Art von Erfolg keinerlei Auswirkung mehr auf die Biografie
des Autors - auch nicht auf die schriftstellerische. Nicht zu Unrecht
beklagt Hannah Arendt, die traurigste Form allen Ruhmes sei der Nachruhm.
So manches Buch wurde niemals geschrieben, weil der Autor sich als gescheitert
empfinden musste, weder die ökonomische noch die energetische Reserve
hatte, seine Produktivität gegen die Hemmnisse einer feindlichen
oder zumindest pragmatischen Außenwelt dauerhaft aufrechtzuerhalten.
In diesen Zusammenhang, das Beispiel Goethes unmittelbar ergänzend,
fällt der Werdegang Arthur Rimbauds. Die Frage, inwiefern Rimbauds
Abkehr von der Schriftstellerei - er entwarf sein dichterisches Programm
im wesentlichen zwischen dem 16. und dem 18. Lebensjahr - durch die
ihn nachhaltig frustrierenden Erfahrungen mit der Pariser Szene und
dem Scheitern seiner bewusst stilisierten wie höchst sensibel empfundenen
Künstlerexistenz motiviert ist, kann nicht abschließend beantwortet
werden. Wichtig bleibt jedoch das Typische seines Weges zum Muster,
welcher in seinen Verschlingungen und Exaltationen schicksalhaft und
grotesk zugleich anmutet. Kaum ein anderer Schriftsteller erfuhr das
Ignoriert- und Totgeschwiegenwerdens im Künstlerischen zu Lebzeiten'
in Verbindung mit einer plötzlichen Kehre des literarischen Geschmacks
so deutlich wie Rimbaud. Zunächst gar nicht oder nur von wenigen
überhaupt als Literat wahrgenommenen und auch wegen seines oft
überspannten Verhaltens aus den maßgeblichen Künstlerzirkeln
der Metropole ausgeschlossen, wird er bald jäh hofiert, bejubelt,
emphatisch in den Himmel gehoben. Das einzige Buch, welches Rimbaud
publizierte, selbst und auf eigene Kosten, Une Saison en Enfer,
verstaubte beinahe 30 Jahre lang in einer Brüsseler Druckerei.
Dort hatte man es einbehalten, da der Dichter nicht für die Druckkosten
aufzukommen vermochte. Dann, in seiner Abwesenheit - Rimbaud vagabundierte
durch Europa und durch den Orient, war im Waffengeschäft tätig,
vielleicht sogar im Sklavenhandel engagiert - erfuhr sein Werk, nicht
zuletzt durch die Förderung Verlaines, eine unerhörte öffentliche
Resonanz. Plötzlich wollte das Publikum des Autors, seines Autors
habhaft werden,sich seiner Person versichern, ihn öffentlich und
leibhaftig vor Augen haben - doch niemand wusste, wo sich das Genie
aufhielt, geschweige denn, ob es überhaupt noch lebte.
Genau dieser Umstand erscheint als die einmalige Konstellation dieses
Falles: Als einem von wenigen Schreibenden war es ihm vergönnt,
das Drama der öffentlichen Wirksamkeit seines Werkes gleichsam
als Verschiedener - der eigentlich doch nur ein örtlich Abgeschiedener
war - erfahren und werten zu können. 1886 schrieb ihm ein Journalist
nach Kairo, wo er Rimbaud endlich nach einiger Recherche aufgespürt
hatte: "Sie wissen wahrscheinlich nicht, da Sie so fern von uns
leben, dass Sie in einem kleinen Kreis in Paris eine Art legendärer
Gestalt geworden sind, einer von jenen Menschen, die bereits als gestorben
gelten, an deren Erdendasein jedoch getreue Anhänger hartnäckig
glauben und deren Wiederkehr sie erwarten." Rimbaud erwies den
enthusiasmierten Jüngern jedoch nicht die Ehre der Auferstehung.
Er verweigerte jeden Kommentar zu seinem nachgetragenen Dichterruhm.
1891, am 19. Februar, verlautbarte die Zeitschrift La France Moderne:
"Jetzt haben wir ihn! Wir wissen, wo Rimbaud ist, der große
Rimbaud, der einzig wahre Rimbaud, der Rimbaud der Illuminations.
Wir erklären hiermit, dass wir das Versteck des Vermissten kennen."
Diese auf den Autor fokussierte Begehrlichkeit des Publikums weicht
nun allerdings hart von allem ab, was er je als Lebenswirklichkeit empfand.
Während er in Marseille auf Leben und Tod darniederliegt, der Arzt
ihm soeben das Bein abnimmt, wächst sein Ruhm unaufhörlich.
Der sterbende Rimbaud erlangt literarische Bedeutung, man erhebt den
Amputierten zur Galionsfigur einer Bewegung, stellt ihn ohne sein Zutun
an die "Spitze der école décandente et symboliste".
Alles was von ihm aus jenen Tagen an Stellungnahme zu seinem Werk überliefert
ist, ist ein schlichter Satz: "Je ne pense plus à ça"
- "Ich denke überhaupt nicht mehr daran". Er kann oder
mag diesen obskuren Geschehnissen um sein Bild nicht einmal mehr die
Basis entziehen. Die eklatante Differenz zwischen dem Gültigwerden
des Rimbaudschen Konzepts moderner Dichtung und seiner persönlichen
Unbetroffenheit im Angesicht der Ehrung zeigt, dass der Text durchaus
eine Art von Eigenleben zu entwickeln vermag, selbst zur Legende'
im ursprünglichen Wortsinne wird. Offenbar gelingt es in einigen
Fällen dem Autor sogar, seine Person aus dem Prozess der literarischen
Bedeutsamkeit nachträglich zu eliminieren. Es ist auch das Modische,
eine Art von unkritischer Hysterie, zumindest in winzigen Nuancen, welche
sich hinter aller Bewunderung und Anerkennung für den außerordentlichen,
den treffenden Gedanken verbirgt. Das Wort, einmal ergangen, kann im
Extrem eine schwer nachzuvollziehende Transsubstantiation erfahren.
Solche Haltungen und Lesarten später zu revidieren, fällt
schwer, wird mitunter unmöglich. Dem Autor widerfährt damit
bei aller Huldigung in den seltensten Fällen das rechte Maß
der notwendigen Anerkennung. Zwar mag sich jede Generation ihre eigenen
Klassiker suchen, zumeist aber bleiben es doch die bereits bekannten
und gut kommentierten. Bereits Änderungen des Kanons en detail
provozieren in der berufsmäßigen Zunft erbitterte Glaubens-
und Grabenkriege für Jahrzehnte, Innovationen der Retrospektive
bleiben rar. Aber - sie kommen doch hin und wieder vor.
4.
Das in den angeführten Beispielen Benannte mag als die passive
Dimension der Wahrnehmung des bedeutsamen Werks gelten. Vieles wird
ihm zugetragen, was immer es auch innovativ leistet oder leistete. Doch
noch eine weitere Dimension muss in diesem Zusammenhang zur Sprache
kommen, nämlich die aktive. Anders gefragt: Was macht einen Bestseller,
wenn und obwohl er ein Massenerfolg ist, wenn er als historische Maßgabe
erkannt wurde, selbst aus, worin liegt die zweite Ambivalenz? Ich hatte
eingangs das unzureichende Analogon der Evolution bemüht. Hier
nun zeigt sich noch einmal das zugleich Treffende wie Hinkende dieser
Vorgabe. Es muss aus rückwärtiger Sicht keineswegs das Beste
und schon gar nicht das Einzige sein, was da anerkannt und auf den Thron
gehoben wurde. Aber sitzt es einmal dort, so wird sein Schatten lang
und wenig kann neben ihm aufschießen,sich neben seinem Maß
behaupten. Ein anderer Autor, der wie Rimbaud von seinem Werk gleichsam
maskiert wurde, der hinter einer willentlichen und parteiischen Auslegung
a posteriori gänzlich zu verschwinden drohte, war Friedrich Nietzsche.
Er erfuhr in der Rezeption ein Schicksal, welches sich durchaus an die
genannten anschließt, das er jedoch in grundsätzlich anderer
Weise reflektierte und zwar bereits zu einem Zeitpunkt, als von Ruhm
und blinder Gefolgschaft für Teile seiner Philosophie und Dichtung
noch keine Rede war.
Seinen wissenschaftlichen Werdegang begann Nietzsche als Professor für
Griechische Sprache und Literatur an der Basler Universität mit
Studien zur antiken Rhetorik. Diese ersten sprachkritischen Untersuchungen
wurden für sein gesamtes weiteres Verständnis, was Poetik,
was Sprachschaffen in nuce sei, wegweisend. Die aus diesen Studien gewonnen
Erkenntnisse führten zu der Vorstellung, dass der epistemische
Möglichkeitscharakter des Wortes in seiner grundlegenden Bedeutung
und Radikalität innerhalb der abendländischen Tradition noch
gar nicht aufgespürt worden sei. Ein Text setzt sich nach Nietzsches
These nicht aus echten Sachaussagen zusammen, die strenge Richtigkeit
oder auch entgegen liegend eine logisch bedingte Inkonsistenz, also
Falschheit, mit sich führen könnten. Diese landläufige
Vorstellung einer, wenn man sie so nennen mag, wirklichen' Wirklichkeit,
über welche sich die Individuen sprachlich neutral auszutauschen
in der Lage wären, sei keineswegs gegeben. Vielmehr gebe es überhaupt
keinen fasslichen Unterschied zwischen einer "regelrechten Rede
und den sogenannten rhetorischen Figuren". Was dies für den
Prozess der literarischen Produktion bedeutet, liegt auf der Hand: Eine
im ursprünglichen und vollen Wortsinne poietische Funktion kann
dem Autor damit gar nicht zukommen. Er muss immer und zwangsläufig
auf das Repertoire einer überlieferten Richtigkeit zurückgreifen.
Diese Richtigkeit bestimmt die Form seines Gedankengangs, umreißt
und begrenzt die Form all seiner Aussagen ab ovo. Bis hin zu demjenigen
inhaltlichen Bestand, welcher später schließlich als sein
Potenzial begriffen werden mag, als die Novität seiner geformten
Sprache allgemein bekannt wird. Wir bemerken, dass sich hier eine Paradoxie
abzeichnet, welche wir in ihrem Ursache-Folge-Verhältnis nur noch
graduell bedenken können, die einer Analyse nicht mehr recht zugänglich
ist.
Kommt alles Neue solcherart nur aus dem Angestammten her, so zeichnet
sich weiter im Umschlag einer erfolgreichen Variante von ihrer ersten
formalen Möglichkeit, denn so darf man Poetik in vielerlei Hinsicht
von ihrer Herkunft her betrachten, hin zur späteren Kanonisierung
ein immer gleichgelagertes Geschehen ab: der "Geschmack der Vielen"
trifft unter den gegebenen Werken eine Auswahl, erhebt das eine zur
Norm, lässt ein anderes durch das Raster fallen. Ist ersteres aber
erst einmal in seinem Rang bestätigt, so ist es genau seine besondere
Interpretation von Wort als Sinn, welche nun durchdringend als Wert',
als Richtigkeit' verstanden wird. Es ergänzt das Bestehende
und sei es in der Form gedanklicher Negation und Konfrontation, es wird
so oder so selbst autoritativ.
Diese Weise des bedeutsamen Werks, Norm stiftend zu agieren, zeigt eine
notwendige Konsequenz für konkurrierende Denk- repektive Sprachsysteme.
Nietzsche stellt in dieser Entwicklung zur rhetorischen Institution
den radikalen Nebeneffekt subtil fest. Für alle weiteren Werke,
welche nun eben nicht mehr diese Bedeutsamkeit erringen können,
lautet seine Feststellung konzis: "Eine Figur, welche keine Abnehmer
findet, wird Fehler". Dieser Gedankengang ist allerdings von großer
Bedeutung und Tragweite. Er geht zentral auf das zu, was wir als die
zweite Ambivalenz des bedeutsamen Werkes erkennen. Hier nun findet nicht
nur die bereits angesprochene subjektive Normierung von Seiten des Lesers
als Geschmacksurteil statt, die Entscheidung geht aus dem, was bereits
historisch als werthaltig gilt und gerade deshalb gegenwärtig Norm
wird, hervor. Soll Literatur Beachtung finden , kann sie es nur aus
dieser Perspektive. Sie kann niemals wertfrei betrachtet werden, ihre
Position bestimmt sich immer und ausschließlich relativ auf das
Bestehende.
Für den Autor ergibt sich hier im weiteren Kreis eine prekäre
Verbundenheit von Leben und Literatur. Er versucht sich zwischen den
rhetorischen Fronten zu behaupten, alles Urteil über ihn bleibt
dennoch jenen Linien verhaftet. Sein Vorankommen oder Scheitern ist
nur aus der unablässigen Wirksamkeit ihrer gesetzgebenden Natur
angemessen zu verstehen. Dass diese Kritik in höchstem Maße
existentiell bedrohlich sein kann, ist evident. Als er mit seiner ersten
größeren Schrift, Geburt der Tragödie aus dem
Geiste der Musik, an die Öffentlichkeit tritt, erfährt
Nietzsche in Fachkreisen entschiedene Ablehnung. Den eklatanten Verstoß
gegen die Schreibregeln der Zunft kommentiert sein Kollege Hermann Usener
in einer Rezension wie folgt: "Jemand der so etwas geschrieben
hat, ist wissenschaftlich tot." Nietzsche nimmt Abschied aus dem
Lehrbetrieb und widmet sich trotz des Misserfolgs weiter mit vollem
Einsatz einem literarisch-philosophischen Lebenswerk. Um die Jahrhundertwende,
der Autor ist mittlerweile in Demenz verfallen, setzt wieder einmal
eine schlagartige Rezeption ein, deren Strömungen und Ausuferungen
sich nicht wesentlich von den bereits angeführten Beispielen unterscheiden.
Gottfried Benn skizziert die epochale Auswirkung Nietzsches auf die
jungen Schriftsteller schließlich als eine rezeptionsästhetische
Totale: "Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte,
innerlich sich auseinandersetzte, man kann sagen: erlitt, man kann auch
sagen: breittrat - alles das hatte sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen
und erschöpft, definitive Formulierung gefunden, alles Weitere
war Exegese. Er ist, wie sich immer deutlicher zeigt, der weitreichende
Gigant der nachgoetheschen Epoche".
Eine unüberbrückbarere Spanne zwischen Ablehnung und Anerkennung
als sie Nietzsche hier erfährt, ist kaum denkbar. Der Weg vom Status
einer persona non grata des Wissenschaftsbetriebs hin zur Aufnahme in
das Pantheon philosophischer Klassiker scheint sich in einem kühnen
Sprung zu vollziehen, gerade einmal 30 Jahre liegen zwischen den Polen.
Dieser besondere Zeitraum allerdings, er mag nun im einzelnen biografischen
Fall kürzer oder länger sein, ist es, der unsere Aufmerksamkeit
auf die dritte und abschließende Ambivalenz des bedeutsamen Werks
lenken will. Jene in der Vogelperspektive der epochalen Betrachtung
verschwindend geringe Distanz dreier Jahrzehnte bleibt für die
Lebensumstände des Autors Nietzsche allerdings prägend. Diese
Phase, welche nahezu die Gesamtheit seines arbeitsfähigen Daseins
ausmacht, ist durch tiefe Vereinsamung, durch phasenweise Depression
und das Gefühl verkannt zu sein geprägt. Es bildet sich das
zunehmende Bewusstsein heraus, völlig vergeblich zu arbeiten, sich
in einem nur begrenzten, zunehmend solipsistischen Horizont zu verfangen.
Das immer produktiv geführte Leben, welches aber auch unter dem
Aspekt seines Dauerns keine Anerkennung erfährt, gerät anhand
dieser wachsenden und chronifizierten Spannung zwischen faktischer oder
vermeintlicher Erfolglosigkeit und vor allem einem dialogischem Selbstanspruch
des Werks in eine entschiedene Distanz zu sich selbst. Das Hinwerfen
des ganzen persönlichen Vermögens auf das eigne Wort ist zweifelsohne
notwendig, wenn die geistigen Möglichkeiten des Schaffenden auch
ihre konzeptionell und material verwirklichte Gestalt finden sollen.
Zugleich aber steht der Autor in der Gefahr, an diesem fortlaufenden
Akt der Entäußerung Schiffbruch zu erleiden, sein poetischer
Enthusiasmus kann ihn geradewegs in den ganz realen ökonomischen
und sozialen - und damit wieder in den geistigen - Abgrund führen.
5.
Haben wir das bedeutsame Werk zunächst unter dem Gesichtspunkt
der passiven wie daraus folgend der aktiven Dimension ausgemacht, so
möchte ich diese abschließende Dimension, welche mit den
beiden ersten in enger Verschränkung steht, die optionale nennen.
Sie ist nicht mehr im Wesentlichen durch die äußere Relation
geprägt. Sie ist vor allem weiteren Geschehen zunächst nur
in der Sicht des Schreibenden aufzufinden: Das bedeutsame Werk ist seine
allererste Reflexion. Nach der Terminologie der ersten beiden Betrachtungsweisen
wäre sie als die Unausgemachtheit' des Wortes zu charakterisieren.
Als sein Noch-nicht-Festgestelltsein' in der Beziehung auf andere
Texte, auf mannigfaches anderes (und damit auch auf künftiges eigenes
als eben unentschiedenes) Gedankengut. In diesem Moment des ersten Versuchs,
noch weit vor aller Kritik, trägt das bedeutsame Werk das Gesamt
seiner Möglichkeiten noch ganz in sich. So auch diejenige, unentdeckt,
unbekannt, ja vielleicht sogar verlacht, unverständig angestaunt
oder unausgeführt zu bleiben. Es trägt die flüchtigsten
Hoffnungen und stärksten Impulse des Autors, wie es dessen faktische
Krisis zu sein vermag. Es könnte dessen allgemeine Anerkennung
herbeiführen, sein Wort Maßgabe und Bestseller werden lassen,
wie es zugleich dessen Existenz fruchtlos vor allen anderen ebenfalls
essentiellen Tätigkeiten eines nicht-literarischen Lebens abzuschließen
vermag.
An sich und für sich hat das Werk damit noch keinen Wert'.
Dieser mag ihm später zukommen, vorab kann es sich jedoch mit nichts
messen als mit sich selbst und dem, was es und wie es etwas reflektiert.
Hier zu urteilen macht damit keinen wirklichen' Sinn: Das Wort
ist nur vage durch eine Tradition ausgemacht, welche der Perspektive
des Autors entspringt, aber eben noch keinem vielstimmigen Publikum
verpflichtet ist: In dieser allerersten noch nackten und blinden Hermetik,
macht es zugleich auch noch nichts Fremdes aus, gibt selbst keine Norm.
Ich möchte aber an dieser Stelle dennoch behaupten, dass es solcherart
eine ganz andere, nicht weniger entschiedene, eine primäre und
persönliche Bedeutsamkeit in sich trägt, welche allerdings
nicht vollständig im Rahmen eines herkömmlichen Verständnisses
von Qualität und Anspruch auflösbar erscheint. Es weist in
und aus jener dritten Ambivalenz auf die Relevanz des schriftstellerischen
Tuns, indem das neue' oder unbekannte Werk immer in der benannten
Gefahr steht, keine "Abnehmer" zu finden und damit fehlerhaft'
zu sein. Aber eben nicht fehlerhaft per se, unpassend jedoch in den
Strukturen einer literarischen Landschaft vielleicht, unter deren Gesetze
es sich aus Gründen oder auch Zufällen nicht fügt.
Deshalb kann unser Denken über das, was ein wahrhaft bedeutsames
Werk sei, oder auch ein Bestseller, nicht abgeschlossen, nie definitiv
sein. Unser Blick muss sich nach vorn wie nach hinten offen halten,
in der Gegenwart wie in der Vergangenheit nach zukünftigen Texten,
nach möglichen Formen, nach Seitenzweigen der literarischen Entwicklung
Ausschau halten. Deren unerkannter Status ist es, welcher unser ungeteiltes
Interesse gleichfalls und gleich-gültig verdient. Denn erst aus
jener personalen und inhaltlichen Negativität des Möglichen,
die ein bedeutsames Werk am Anfang, vor allem Erfolg, aller öffentlichen
Präsenz wesentlich mit ausmacht, vermag so etwas wie eine allgemein
anerkannte Figur, eine überindividueller Sinn zu entstehen, dessen
Wortlaut wir uns skeptisch und affirmativ zugleich, also ambivalent
fortdenkend, anschließen können.
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