LESEPROBE
   

Europas Weg: Mythos, Topos, Utopie
Oder
Der entgrenzende Reiz eines eingängigen Epilogs
Und über sich doch schließende Kreise

Ein Beitrag zum ›Saarbrücker-Wettbewerb‹
Formuliert als der progressive Versuch einer Antwort
Auf die Frage des Jahres 2000
"Wie und wozu lernen wir,
europäisch zu denken"


von
Johannes Schnurr
(Heidelberg)

Inhalte und Progressionen

Frage nach der Frage! Die Frage öffnet sich. Die Frage hat eine Geschichte. Aus dem Rahmen gefallen: Die Skepsis beginnt zu greifen. Der Topos ist das Ende der Utopie, wenngleich es umgekehrt behauptet wurde. Der Mythos ist die Einheit beider Momente. Der Epilog. Er führt uns zu einer ersten Antwort. Reizworte: Wunsch und Wirklichkeit, Möglichkeit und Machbarkeit. Die Wurzel der Perspektivität. Optionsräume: Weitere Antworten. Auf dem Weg in den digitalen Kapitalismus. Datenströme oder Ich weiß etwas, das du nicht weißt. Dolly in der Wüste. Die Kreise schließen sich.


Frage nach der Frage!

Daß eine Frage, oder vielleicht besser deren einschränkungsloses Bedenken, den ersten Schritt beginnender Erkenntnis bilde, darf als ausgemachter Allgemeinplatz gelten. Sicherlich zu Recht, so diese Frage eine wirkliche Offenheit in sich trägt und auch der Antwortende ein redliches Bemühen zeigt, sich auf diese einzulassen, sie aufzugreifen, weiterzutragen und - so ihm dies denn möglich ist - auch zu beantworten. Hier zeigt sich jedoch ein erstes Hindernis, öffnet sich ein vielstelliger Raum, welcher der eigentlichen Beantwortung wesensgemäß vorausliegt, ja wohl als die Frage der Frage gelten mag und damit gleichsam sein erstgeborenes Recht auf Beantwortung beanspruchen darf: Die Frage nach dem Wesen der Frage. Diese ursprüngliche Frage liegt den konkreten Inhalten der geformten Frage immer voraus. Das Wesen der Frage liegt in ihrer vorgängigen Unausgemachtheit, ihrer positiven Unsicherheit, ihrem ganz allgemein vorzustellenden ›Noch-nicht‹. Allgemeinheit meint hierbei aber gerade nicht Willkür und Beliebigkeit.
Wird diese erste Frage nicht gestellt, beginnt man sozusagen ›mittendrin‹, bei den formulierten Inhalten, den Topoi, der schon gestalthaften Frage, muß das Ergebnis einer möglichen Anwort nicht unbedingt falsch sein; aber seine Richtigkeit darf dann doch auch nicht so ohne weiteres als erwiesen gelten. Sollte denn dem Prinzip nach überhaupt jemals so etwas wie Richtigkeit in unserem Denken gewonnen sein, muß es sich seiner Quellen vergewissern, darf es nicht den schnellen, den vielleicht einfacheren Weg gehen und schlicht behaupten: "So ist das". Ohne Rücksicht auf jenes hinter der Frage selbst liegende Moment des Fragens können wir nicht eigentlich Anspruch darauf erheben, was Kommunikation in einem weiten Sinne meint. Uns mit etwas auseinanderzusetzen zeigt auch, wer wir gerade sind und was wir uns zu bedenken bereit finden. Es bleibt also dringend angezeigt, uns allererst selbst darüber zu befragen, wem und worauf wir denn Antwort geben, auf wen und was wir uns in unserer Antwort einlassen und dann erst wie dies im einzelnen denn geschehen möge.
Die Frage nach der Frage deutet somit auf einen weiteren Aspekt, einen Aspekt, der sie als Frage zuallererst ermöglicht, ihr Gestalt gibt. Sie hebt sich von einem ganz bestimmten und einmaligen Hintergrund ab, gewinnt ihre Kontur durch ein Umfeld, das sie als fragende ›Figur‹ in den Bereich einer eigenen Sinnhaftigkeit einläßt. Es ist ein Bereich der seine Formen kennt und gefunden hat, der je schon deutliche Bezüge aufweist. Es sind dies historische, personale, ökonomische, künstlerische Befunde, ja sogar - und sei es in Negation und Ausklammerung - in der einen oder anderen Art und Weise immer wohl auch metaphysische. Es ist die hintergründige Motiviertheit der Frage, welche sie dann dasjenige werden läßt, was und ›wie‹ sie ist. Wir sehen eine Folge. Sie beginnt im Konkreten und taucht erst nach dem Durchgang durch ein nicht einfach zu fassendes Allgemeines wieder als Konkretes auf. Als ein Konkreteres allerdings, dessen Vorhandensein eine besondere Weise zu sein darstellt: in seiner Offenheit, seiner Einzigartigkeit, seiner markanten Individualität. Und auf diese Offenheit und jene Vorstellungen, die hinter und vor ihr stehen, gilt es sich damit fragend einzulassen.
Nachdem wir uns solcherart darüber verständigt haben, daß es etwas sei, was der Frage ihre Form und ihren spezifischen Wert gebe, ist diese so aufgenommen, daß sie nun zu Sprache gebracht werden kann und zwar im ersten Grade ihrer Konkretheit. Die ›gestellte‹ Frage lautet: "Wie und wozu lernen wir, europäisch zu denken?"


Die Frage öffnet sich

Die formulierte Frage ist öffentlich. Sie ergeht an den Befragten nicht nur als privatime Bekundung und ist damit auch nicht geeignet, eine nur und ausschließlich persönliche Antwort herbeizuführen. Es handelt sich keineswegs um eine Spitzfindigkeit diesen Sachverhalt ausdrücklich festzuhalten. In einem anderen sozialen Umfeld, einem ungleichen persönlichen Zusammenhang, würde nämlich auch eine potentielle Antwort radikal anders ausfallen. Wenn denn überhaupt eine erginge. Wenn denn dort prinzipiell eine vergleichbare oder sogar identische Frage denkbar erschiene, was wir vorab als höchst unwahrscheinlich annehmen dürfen.
Diese öffentliche Frage, in ihrer in doppelter Lesbarkeit offengehaltenen Form, leitet sich von einem - wir haben es vorab angedacht - besonderen Bezug her. Ein Bezug, welcher selbst auf eine überkommene Geisteshaltung referiert. Der Wettbewerb selbst bekundet sich offen zu der Folge, in der er sich selbst erkennt und als in welcher befindlich er auch angesehen werden mag. Er gibt damit im weiteren auch die besondere ›Folge‹ einer Antwort, ihren bewußten Rahmen und ihr Gewicht, explizit an.


Die Frage hat eine Geschichte

Die Geschichte einer Frage beginnt in einer mehr oder weniger dunklen, diffusen Vergangenheit. Wenn wir sie beantworten, greifen wir also diese ihre Geschichte mit auf, reihen eine eigene Geschichte an und schon ist alles zusammen wieder in einem mehrfachen Sinne geschichtlich geworden. Oder zumindest so beinahe. Was meint das? Geschichte und Geschichten haben eine enge Verwandtschaft. Es bricht damit die Zeit an, es ist Leben und Farbe ins Spiel zu bringen, es gilt Namen zu nennen, Fakten hervorzukehren und ihre Bezüge, ihre Verflechtungen deutlich zu machen.
Die Tradition, um ein schweres Wort zu gebrauchen, solch öffentlicher Fragen und ihrer pointierten Beantwortung reicht in das 18. Jahrhundert zurück. Die literarisch bewußt offensiv und diskursiv geführte Auseinandersetzung mit Problemen des gesellschaftlichen und politischen Lebens stammt aus jener Epoche her. Die damals recht gezielt für gebildete Bürger und Berufsgelehrte formulierten Fragen dürfen in vollem Umfang als ein Spiegel ihrer Zeit gelten, wie auch die hier auftauchende Frage damit ein sprachlich auskristallisierter Punkt zu sein beansprucht, welcher für einen sehr speziellen Inhalt stehen mag, der uns gegenwärtig und unmittelbar betrifft.
Es geht also zentral darum, sich auf ein Thema einzulassen, das uns ganz aktuell bewegt. Hier berühren sich Theorie und Praxis aufs engste. Ziel ist es, seine persönliche Antwort aus dieser anerkannten Bewegtheit heraus zu modellieren. Sie in eine bewußt reflektierte und dadurch ›neue‹ und ›bessere‹ Bewegung umzusetzen, sie wesensmäßig zu verwandeln. Aus der Bewegtheit zur Bewegung, dies ist das Verhältnis von Geschichte und Geschichten. Allerdings: Diese Formulierungen können uns in eine prekäre Ambivalenz führen. Oftmals hat der überpersönliche Kollektivsingular ›Geschichte‹ nichts mit unseren persönlichen, biographisch gefärbten Geschichten zu tun, er scheint sie gleichgültig zu verschlucken, was wir zu sagen haben scheint vor ihr geradezu ohnmächtig, irrelevant, folgenlos. Aber Antwort geben heißt auch dies in Kauf nehmen. Nicht gehört zu werden, seinen Versuch dabei weiterhin ernst zu nehmen, ohne Anspruch auf Erfolg und Wirksamkeit. Doch dieses ganz ungesicherte Bemühen gehört zur Relevanz einer wie auch immer gearteten Antwort. Deshalb war bisher auch noch an keiner Stelle von mehr die Rede als dem Versuch.


Aus dem Rahmen gefallen: Die Skepsis beginnt zu greifen

Gilt es, im besonderen historischen Rahmen der Antwort, in dessen Kern die ›Dimension‹ Europa als Horizont der Frage enthalten ist, einen ersten Oberbegriff für unseren Versuch zu finden, so kann dieser nur lauten: ›Aufklärung‹. Und so mögen auch wir uns - selbst im gegebenen Rahmen antwortend - natürlich gerne einem solchen großartigen Unterfangen wie demjenigen der Aufklärung anschließen und es selbst in eine noch ungewisse Zukunft forttragen. Gerne auch die kommende Zeit in diesem Sinne mitgestalten. Waren es doch unzweifelhaft hohe und durch und durch humanistische Ziele, welche die Aufklärung als Epoche propagierte. Die aufrichtige Bejahung und systematische Beförderung von bildender Kunst, von Wissenschaft, Dichtung und Philosophie. Es war der Wille jener Vorreiter, die Gesellschaft aus ihren angestammten Zwängen zu befreien. Sie wollten die Geister ihrer Zeitgenossen aufklären, ›Licht‹ in ein bislang recht finsteres Jahrhundert bringen, sie riefen das "Siècle des lumières" aus. Zeit und Ort dieser Wirksamkeit sind hinreichend bekannt.
Skepsis beschleicht uns jedoch, wenn wir die Frage weiter in der bekannten Weise unvoreingenommen offenhalten und nach deren ursprünglicher Motiviertheit forschen. Und damit verändert sich die Perspektive deutlich. Könnte es denn tatsächlich sein, müssen wir uns dann fragen, daß nunmehr, auch nach 200 Jahren, das eigentliche Ziel dieser Aufklärung immer noch nicht erreicht sei? Ist es denn wirklich möglich, daß dieser für unser menschliches Bewußtsein wahrhaft lang währende Zeitraum nicht genügt haben sollte, die bekundeten Ideale, oder etwas weniger absolut formuliert, all jene damals begeistert entworfenen Konzepte und Programme nicht umzusetzen? Wäre es denkbar, daß wir immer noch aus dem psychologisch selben Ursprung uns zu entwerfen gezwungen sind, wie jene ersten Aufklärer?
Dies erwiese sich dann allerdings als das Eingeständnis eines schwerwiegenden Fehlgehens. Das Projekt Aufklärung wäre damit weitestgehend gescheitert. Obwohl zeitlich nicht mehr am Anfang stehend, wären wir inhaltlich nicht über den ursprünglichen Stand, über die ursprüngliche Problemlage hinausgekommen. Reflexionen über die vermeintlichen Leistungen der Aufklärung stellen sich in dieser Distanz damit zugleich auch als implizite Bekundungen ihres Versagens dar. Der geschichtliche Rahmen solchen Bedenkens und Fortschreibens hätte sich dann einerseits als Fehlkonstruktion erwiesen, wäre nur endlos gekettet und schwächlich geblieben und andererseits paradoxerweise zu einem steifen ideellen Korsett verkommen, welches es konsequenterweise - endlich - nun zu sprengen gilt.


Der Topos ist das Ende der Utopie, wenngleich es umgekehrt behauptet wurde. Der Mythos ist die Einheit beider Momente

Es herrscht tatsächlich eine schroffe Differenz zwischen Gestern und Heute. Und diese ist wahrlich keine geringe, sondern eine radikale Geschiedenheit, welche die Frage aufwirft, ob wir diese Tradition, wie sie uns da entgegentritt, überhaupt annehmen können und wollen. Diese Differenz geht allerdings nicht in die Stoßrichtung jener sattsam exerzierten und recht polemisch vorgebrachten "Kritik der Aufklärung", die ihre selbstgewählten begrifflichen Grundlagen verfehlen mußte, um schlußendlich ihr Recht zu behalten. Es handelt sich hier vielmehr um die Akkumulation einer im Zeitverlauf zunehmend schiefgelagerten Erfahrung, welche der konzisen Prophetie jener ursprünglichen humanistischen Vision diametral entgegensteht. Es geht um Topos und Utopie. Und es geht vor allem um den aktualen Platz zwischen diesen Polen: Europas Weg.
Eine der bedeutsamsten Gestalten der Aufklärung stellt unzweifelhaft, pars pro toto, Johann Gottfried Herder vor. Ihm hat man ganz wesentlich das Bewußtsein für jene prozessuale Entwicklung zu verdanken, die wir heute als Geschichte begreifen. Seine Beiträge zu zeitgenössischen akademischen Preisausschreiben wurden wegweisend in ihren Thesen. Seine Untersuchungen skizzieren erstmals die Bedeutsamkeit nicht nur der griechischen, sondern auch der orientalischen und zentraleuropäischen Volkskulturen für die Entstehung jenes geographisch-historischen Gebildes, welches uns heute als Europa selbstverständlich erscheint.
Seine synthetischen Anregungen und visionären Leistungen wirken hier produktiv bis auf den heutigen Tag nach. Sie denken sich allerdings auch von einer ganz bestimmten Größe her, berufen sich in ihrer ganzen Schlüssigkeit auf einen zentralen Aspekt, welcher uns gegenwärtig schwer nachzuvollziehen, ja schier undenkbar geworden erscheint: Der Weg Europas in die Zukunft ist und bleibt in jedem einzelnen Moment ein Weg in eine bessere Zukunft. Entwirft Herder auch stellenweise ein antiklimatisches Geschichtsbild, es sinkt das "goldene Zeitalter" der israelitischen Patriarchen im Laufe der Zeiten allegorisch bedeutsam in den Staub eines ›nur-noch-menschlichen‹ Agierens hinab, so sind es doch in Wahrheit die einer höheren Ordnung entstammenden Prozesse einer überall und jederzeit wirksamen "Gärung", welche alle einzelnen Geschehnisse auf eine göttlich geordnete und damit auch gesellschaftlich vollkommene Zukunft hin organisieren. Der Mensch mag seine Situation als problematisch empfinden, als ungeschlichtet und schmerzhaft. Doch sie ist es nicht im Angesicht einer übergeordneten Wahrheit und kann es auch a priori gar nicht sein. Herder, als einer der führenden Visionäre europäischer Einheit, antizipiert diese Einheit stets in einem höheren Zusammenhang, stellt sie uns als gewiß und gelingend vor. Der je einzelne Moment einer sich mitunter wirr und chaotisch zeigenden Lebenswelt, bleibt ›sub specie aeternitatis‹ ein unverzichtbarer Meilenstein hin zur letzten Vollkommenheit, ist, ob als Element der persönlichen Existenz oder als Teil der gesellschaftlichen Gemeinschaft, präfiguriert anzunehmen und erst in diesem Sinne ›handelnd‹ zu bejahen.
Doch die heutige Erfahrung, unser gewordener europäischer Topos, also unser eigenster geschichtlicher Ort als jüngere Gegenwart dieses Jahrhunderts, steht seiner Utopie klar entgegen. Er verfällt in ihr, wird durch sie allenfalls zum falschen, verdrehten Mythos. Herders aufgeklärte Vision spricht sich prägnant folgendermaßen aus: "Wer zum Nutzen der Welt berechnen und wägen will, tu's! Er hat große Summe von meistens nicht ungewissem Ausschlage vor sich: der Gang der Vorsehung geht auch über Millionen Leichname zum Ziel!"
Solcherart verstanden - und diese Äußerung ist ganz und gar nicht untypisch für ihre Zeit - dürfen wir Europa nicht mehr nur als sukzessiven Vollzug humanistischer Werte begreifen. Wir müssen seine Geschichte vielmehr als etwas ganz anders ansehen: als eine fortlaufende Geschichte des Versagens eben dieser Werte.


Der Epilog. Er führt uns zu einer ersten Antwort

Das Projekt Europa präsentiert sich uns gegenwärtig als heilloses Unterfangen. Wir dürfen es also, um es besser übersehen zu können, getrost von seinem Ende her denken.
Man geht davon aus, daß derzeit acht Prozent aller Einnahmen in Europa überhaupt aus kriminellem Erwerb stammen. Ungefähr ein Drittel aller größeren Immobilien an der Côte d'Azur wurde mit gewaschenen Drogengeldern finanziert. Ein aufgeblähter Agrarmarkt produziert ungeheure Überschüsse an Fleisch, Milch und Butter, eine Umleitung dieser Lebensmittel in bedürftige Länder findet nicht statt. Hingegen wurden in den letzten Jahren, insbesondere in Spanien, traditionell bewirtschaftete Äcker in riesige nun maschinell bearbeitbare Parzellen umgewandelt. Eine zunehmende Versteppung weiter Flächen war die Folge. Abgeholzte Steineichenwälder wurden vielerorts durch Monokulturen von Eukalyptus ersetzt, Grundwasserknappheit, Erosion und Artensterben in Flora und Fauna sind in jenen Regionen mittlerweile irreversibel.
Das Zentralorgan der europäischen Union, das Europaparlament, taumelt entscheidungsunfähig von einer Krise in die nächste, Korruptionsfälle häufen sich und werden durch Verantwortungsträger aus den eigenen Reihe solange kritisch untersucht, bis restlos alle Vorwürfe ergebnislos niedergeschlagen sind. Der Minister a.D. Bangemann absolviert sein recht spezielles und hochbezahltes Praktikum gleich bei einer Aufsichtsbehörde selbst. Die dort erworbenen Kenntnisse sollen ihm dann beim Wechsel in den noch hochdotierteren Beruf eben der in seinem ehemaligen Aufgabenbereich liegende Wirtschaftssparte von Nutzen sein. Woran sich aber vor allem die Konkurrenz stößt, nicht zu allererst die verantwortende Politik. Europäischer Verbraucherschutz auf seinem international hohen Niveau meint: BSE einschließlich Umgehung des verhängten Exportverbots, Dioxin-verseuchtes Geflügelfleisch samt zugehöriger Eierproduktion, Gülleverfütterung und Hormonmafia als chronifizierte Konstituenten eines die Natur deflorierenden agroindustriellen Systems. Das Europa der Regionen bildet diese Verhältnisse wiederum recht gut ab: proportional zu den Aktienkursen des Kölner Oberbürgermeisters steigt die Politverdrossenheit der Bürger, die politische Kaste süditalienischer Landgemeinden scheint mit dem Begriff Cosa Nostra recht treffend umrissen. Angelegentliche Versuche, die eingefahrenen Verhältnisse zu reformieren, schlagen fehl: Vom stillen Einfallsreichtum des Subventionsbetrügers über bauernkriegsartige Handlungen subventionsfixierter und -abhängiger Landwirte in Brüssel und Straßburg bis hin zur Sprengung eines unliebsamen neapolitanischen Staatsanwalts nebst zugehörigen Leibwächtern und Dienstfahrzeug reichen die Resistenzen des Bestehenden. Und Andreotti grüßt seine Daheimgebliebenen mit der Geste des väterlichen Freundes aus dem Exil einer algerischen Oase.
Wiederholen wir uns die eingängige Frage an dieser Stelle noch einmal, so wird uns klar, was in diesen gegebenen Zusammenhängen der Begriff des ›Lernens‹ in Hinsicht auf ein europäisches Denken meint. Der Prozess des Lernens mag prinzipiell verstanden werden als die erfolgreiche Adaptation des Organismus an bestehende Umweltbedingungen. Und indem wir lernen, illusionslos diese gegenwärtigen Konstellationen zu begreifen, wird uns auch die europäische Dimension dieser Lernanforderung klar: Wir müssen versuchen, den größtmöglichen Nutzen aus dem bestehenden Chaos zu ziehen, jedwede ethische Bedenken bei Seite zu lassen, uns im Anschluß an eine Lobby unserer Pfründe vergewissern oder in ein bestehendes Machtvakuum vorstoßen, um uns dort eine erfolgversprechende Nische zu sichern. Zu erkennen, daß die Ideale der Aufklärung historisch versagt haben, heißt, die Idee eines ursprünglichen Hedonismus zurückzugewinnen. Mit allen Konsequenzen.

Reizworte: Wunsch und Wirklichkeit, Möglichkeit und Machbarkeit

Solche Idiosynkrasie gegen die in ihrer Summe hier nur so halb polemisch angeführten Beispiele europäischer Machenschaften wird vor allem verständlich vor dem Hintergrund eines in Europa mitunter recht plakativ zur Schau getragenen demokratischen Rechtsbewußtseins und der gemeinschaftlichen Bekundung einer - auch immer international vorgebrachten - Verpflichtung auf die daraus resultierenden absoluten Werte von Menschenrecht und freier Entfaltung der Persönlichkeit. Das Fehlgehen der europäischen Politik im Detail wie auch im großen Maßstab wirft damit die Frage nach dem tatsächlichen Rahmen auf, innerhalb dessen wir nun diese obskuren Geschehnisse überhaupt einzuordnen und zu deuten vermögen.
Diese ›Ent-täuschung‹ über eine faktische Nichtumsetzung aufgeklärter Ideale mag groß sein; sie bedeutet jedoch, und dies gilt es zu betonen, noch nicht das Ende aller Hoffnung auf eine sukzessive Errichtung verbesserter gesellschaftlicher Zustände. Hier allerdings zeigt sich eine erste signifikante Veränderung der inneren Haltung der Betrachtenden zum real-politischen Geschehen. Man könnte es als erstes Stadium einer veränderten Lernhaltung, als eines erfahrungsgeschichtlich gewandelten europäischen Selbstverständnisses erachten, das sich nicht nurmehr den rückhaltlos positiven Vorstellungen einer teleologischen Geschichtsvorstellung (oder auch ihrem gehaltlichen Gegenteil - einer gedanklichen Opposition, welche wesensmäßig so verschieden wohl gar nicht sein mag - der radikalen Ablehnung aller gemeinschaftlichen Wertvorstellungen) verschreibt: Eine zunächst vage Vorstellung des europäischen Prozesses als primär unabgeschlossene und vor allem dynamische Größe. Solcherart wäre das gegenwärtige Fehlgehen der europäischen Einigung in vielen Punkten keine lineare Ent- respektive Abwicklung zu entdeckender soziologischer und historischer Determinanten, ja es wäre vielleicht nicht einmal mehr ein Fehlgehen ›an-sich‹, sondern es bliebe vielmehr allererst als zu beschreibendes Geschehen, als echter Vorgang zu begreifen, den zu steuern, zu korrigieren und immer wieder erneut versuchsweise zu definieren unsere eigentliche Aufgabe ist.
Möchten wir diese weitere, gegenwärtige Deskription des Bestehenden dann immer noch in epochalen Zusammenhängen begreifen, fällt uns dies mitnichten leicht, da uns ja schließlich jene obersten Deutungskonzepte recht deutlich abhanden kamen. Demgemäß befinden wir in uns zwar noch im wertenden Zusammenhang der Aufklärung, haben sie aber ihrer inneren Aussagen weitestgehend entleert. Die Entleerung kann, verknappt formuliert, als einem negierenden modernen Bewußtsein gedankt begriffen werden, aber auch dieses zeigt in seiner sprach- und erkenntniskritischen Negativität als positiver Leistung einen deutlichen Mangel. Gerade in der Abkehr wird an etwas Bestimmbarem festgehalten. Seine Auflösungstendenz kann stets nur als Auflösung von ›etwas‹ begriffen werden, sie besteht ebenso wenig ›an sich‹ wie die Wertaussagen, die sie überwindet. Insofern beide Sichtweisen einander bedingen, als sie auch übereinander hinausgreifen und sich damit aufzuheben vermögen, scheinen wir mittlerweile an einem ganz neuen Punkt, nicht jedoch unbedingt an einem dialektisch dritten, synthetischen, angelangt. Wir sind in das Zeitalter der Kommunikation eingetreten, alle Inhalte sind als Konstrukte verhandelbar geworden, zugleich aber ist auch damit nichts mehr beliebig an ihnen.
Wir sind nunmehr erst tatsächlich frei für unsere gesellschaftspolitischen Utopien, als wir die Mythen entdeckt und unseren Ort bestimmt haben und fortlaufend neu bestimmen. Wenn wir aber diese latente Spannung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, die wir nun beständig zu unseren Gunsten und Zielen, welche sich selbst in dieser Bewegung in beständigem Wandel begriffen finden, zu ändern suchen, sollten wir nicht vergessen, daß es erst jener entgrenzende Reiz des eingängigen Epilogs war, welcher uns diese Erkenntnis denn ermöglichte. Wären wir verfahren wie üblich, hätten wir alle Hoffnungen, Sehnsüchte und Enttäuschungen in einem herkömmlichen Sinne mit uns weitergeschleppt, wir wären nirgendwo angekommen, wo wir nicht schon gewesen sind.
Alle weiteren hier nun geäußerten Thesen sind vor genau diesem Hintergrund zu begreifen: Sie sind Antworten auf die thematische Frage in ihrem vollen konkreten Umfang, sie stehen damit aber immer auch radikal zur Disposition. Sie verleugnen ihre primär wertende Haltung nicht, doch diese gibt sich nicht absolut, sondern mag nur den Beginn des weiteren Gesprächs anzeigen. Sie müssen somit nicht unerhört neu sein. Aber sie verstehen sich in einem relativen, da in Teilen historisch geborgten, als auch in einem definitiven, da persönlich geäußerten, Sinne als innovativ.

Die Wurzel der Perspektivität

Soll primär der europäische Rahmen unsere Betrachtungsweise bestimmen, so müssen wir uns zunächst auf seine Charakteristika, seine Spezifika einlassen. Der Begriff einer Definition wäre hier zu hoch gehängt, die Bestimmung der Identität von etwas hat in einem gewissen Sinne erschöpfend zu sein und dies bleibt hier - insbesondere unter dem genannten Aspekt einer Dynamisierung respektive der Unabgeschlossenheit historischer Prozessualität - eine Leistung, welche in einem bewältigbaren, da begrenzten, Rahmen nicht zu erbringen ist. So wie die besonderen Problemfelder Europas im weiteren nur grob skizziert und typisch aufgerissen sein mögen, gilt dies zunächst auch für seine geographische, historische und kulturgeschichtliche Dimension.
Der griechische Mythos stellt uns Europa bekannterweise namentlich als jene zauberhaft schöne Tochter des Phönix und der Perimede vor, deren jugendlichen Reizen der unsterbliche Zeus noch unsterblicher erliegt. Er naht ihr verwandelt in der Gestalt eines Stiers. Entgegen dem Rat ihrer hellsichtigeren Gespielinnen schwingt sich Europa voller Neugier auf den Rücken des stattlichen und so erstaunlich zahmen Tieres - um von ihm augenblicklich in die Lüfte gehoben und übers Meer nach Kreta entführt zu werden. Dort gebiert sie, nachdem Zeus sie unter einem Platanenbaum zum Beischlaf zwingt, drei Söhne: Sarpedon, Rhadamanthys und Minos.
So wie sich ›Europa‹ begrifflich nun aus diesem Mythos herleitet, so mag in dieser gegebenen sprachlichen Form noch ein weiterer, älterer Sinn enthalten sein, welcher ursprünglich dem semitischen Sprachgebrauch entstammt. Vermutet wird hierzu die Wurzel ›ereb‹, deren Bedeutung mit ›Sonnenuntergang, Abend‹ oder schlicht ›dunkel‹ wiedergegeben werden kann. Es zeigt sich also in der ersten Bestimmung des Namens für unseren Kontinent, daß dieser ihm eigentlich und zunächst von einer äußeren Sichtweise zukommt. Die Selbstbetrachtung findet also ganz ursprünglich ihren Sinn in der Ansehung durch die Augen eines Anderen. Aus dieser Zweiheit erst geht die Einheit des neueren Gebrauchs hervor: verknappt wäre damit die Dualität von Orient und Okzident als die essentielle Wiege dessen anzusehen, was Europa heute ›ist‹. Daß Europa im Vergleich mit den lichtdurchfluteten Ländern des afrikanischen und vorderasiatischen Raumes ein dunkles Land genannt werden kann, ist durchaus einsichtig. Der Umstand, daß dies tragisch auch in metaphorischer Rede für die jenem Sprachraum ebenfalls entstammenden Juden erst wurde, ist reflexiv auf einer ganz anderen Ebene anzusiedeln. Doch auch diese gehört heute unweigerlich mit zu diesem unserem nun perspektivisch erschlossenen Rahmen.
Der geographische Raum Europas kann pauschal in seiner Ausdehnung von Norden nach Süden als zwischen dem Nordkap und Gibraltar gelegen bestimmt werden, des weiteren bilden im Osten die Gebirgsketten des Ural sowie die Küste des Schwarzen Meeres seine Grenzen, im Westen ist es der atlantische Ozean. Zusammenhängend mit Asien, als dessen westlicher Ausläufer, oder auch rein quantitativ gesehen als dessen Anhängsel es zu erachten ist, bildet es das sogenannte Eurasien, die flächenreichste zusammenhängende Landmasse der Erde.
Sind diese geographischen Angaben wo schon nicht präzise, so doch zumindest deskriptiv recht klar, so wird es mit der Bestimmung, welche Völkerschaften und Nationalitäten denn als europäische gelten mögen, bereits wesentlich komplizierter. Nicht zuletzt das Selbstverständnis der jeweiligen Gruppen und Gruppierungen weist sie je nach Gesichtspunkt in die Mitte, in die Peripherie oder auch bewußt über den Rand Europas hinaus. Auch von ihrer Wahrnehmung durch die anderen europäischen Völker hängt es ab, ob man sie einer, wie auch immer zu fassenden, europäischen Gemeinschaftlichkeit hinzurechnen mag, sie stillschweigend übergeht oder eben explizit ausweist.
Doch hierzu später, zunächst der Reihe nach: Über die Vermittlung des antiken Griechenland - und dessen weitreichend ›kultureller Kanonisierung‹ in Gestalt des expandierenden römischen Imperiums - fanden die religiösen, mathematischen, künstlerischen, agrartechnischen und juridischen Errungenschaften des Vorderen Orients, dessen in hohem Grade arbeitsteilige Hochkulturen ein damals unerhörtes soziokulturelles Niveau vorstellten, unmittelbaren Eingang in den Wissensbestand des frühen Europas. Ob in Form der technischen Praxis oder der philosophischen Reflexion, alle später für sein Selbstverständnis so wesentlich gewordenen geistigen Marken, im Zentrum das Schriftwesen, dankt Europa in irgendeiner Form auch der Anregung durch den Orient. Die später vehement einsetzende Rationalisierung und Dynamisierung des europäischen Geisteslebens wäre ohne diesen Anstoß kaum denkbar gewesen. Doch verfolgen wir diese Reihen der Vermittlung von Wissen, Ideen und Innovationen weiter, so erkennen wir, daß es sich um ein beständiges und zwar in Phasen und Schüben verlaufendes Wechselspiel zwischen Europa und seinen geographischen Nachbarn handelte. Es war nicht eine einzelne und bestimmte Anregung von außen, welche etwa in logischer Folge die innereuropäisch schönsten Blüten trieb, es ist nicht etwa der mesopotamische Kalender allein, oder die Erfindung des Pfluges, welche Erfindungen als Substrat das weitere technologische und gesellschaftliche Wachstum des jungen Kontinents formten. Die ästhetische Bildung des Mittelalters, die Verfeinerung von literarischem und musikalischem Geschmack, entstammt ebenso der ›fernen‹ arabischen Welt, wie diese wiederum ihren damals hohen wissenschaftlichen Stand aus der Grundlage einer lebendig erhaltenen griechisch-römischen Kultur zog. Der sultanische Lebenswandel Friedrich II. - seinen Zeitgenossen in mancherlei Hinsicht anstößig - mag für diese Verhältnisse paradigmatisch gelten.
Auch jene vitale Neubelebung des mitteleuropäischen Geisteslebens in Humanismus und Renaissance, die vielleicht folgenreichste geistige Initialzündung für Jahrhunderte, kommt nur im Gefolge eines west-östlichen Austauschs, wenngleich eher tragischer Natur, zustande. 1453 wird Konstantinopel durch das türkische Heer unter Mohammed II. erobert. Diese neue ›geostrategische‹ Situation zwingt die seefahrenden Nationen Mitteleuropas, als auch die Fernhandel betreibenden Stadtstaaten Italiens, sich neue Schiffahrtsrouten zu wählen, um ihre merkantilen Interessen auch unter den gewandelten Machtverhältnissen langfristig zu sichern. So kommt es einerseits zur, wenngleich unbeabsichtigten so doch folgenreichen, Entdeckung Amerikas. Andererseits gelangen durch die aus der erstürmten Metropole flüchtenden Gelehrten wesentliche Manuskripte antiker Autoren erstmals wieder nach Europa und gewinnen dort als Muster und ideelles Anregungspotential einen neuen, ungeahnten Stellenwert für die weitere literarästhetische und philosophische Entwicklung.
Nicht zuletzt die in jener Zeit sich intensivierende universitäre Lehre kann in ihrer erstmals bewußt und offen forschenden Neuartigkeit ohne die Wirkung dieser erweiterten materialen Basis kaum zureichend begriffen sein. Die Wiederentdeckung dieses inneren Kontinents bleibt in ihrer Bedeutung hinter der radikal veränderten äußeren Topographie in nichts zurück. Beide Momente stehen auf ihre Weise unter dem Vorzeichen einer erstmals umgreifenden Globalität.


Optionsräume: Weitere Antworten

Wie bereits angemerkt, ist der Versuch einer Bestimmung, welche Nationen oder Volksgruppen, so diese Begriffe überhaupt zu etwas taugen mögen, denn als europäische gelten können, sollen oder mögen, mitnichten einfach zu unternehmen. Daß etwa Rußland historisch unumstößlich einen integralen Teil Europas darstellt, daran darf festgehalten werden. Doch erstreckt sich das gegenwärtige Rußland auch bis tief in den asiatischen Raum hinein und dies schon seit der Zeit der Stroganows. Europäische Kultur, europäisches Denken läßt sich in Moskau wie in Wladiwostok, auf der Krim wie in Kasachstan finden. Europäische Traditionen lassen sich hier zwar vielleicht gar nicht mehr von einem nun amalgamierten euroasiatischen Selbstverständnis der Menschen separieren, doch sind eben die historisch dorthin verbrachten Ideen eine wesentliche Grundlage dessen, was wir heute an lebendiger Kultur in jenen Gegenden sehen können und damit ungeachtet der Topographie ebenfalls eine Spielart europäischen Denkens. Daß andererseits bestimmte Volksgruppen oder religiöse Gemeinschaften genau diese Vermengung der Traditionen als Verunreinigung und Verdrängung eigener Identität erfahren haben bzw. sie immer noch als solche begreifen und auch unter Zuhilfenahme kriegerischer Mittel versuchen, hier eine ›Lösung‹ herbeizuführen, stimmt allerdings nachdenklich.
Für die Türkei gilt eine ähnlich gelagerte Problematik. Hatte noch Atatürk den Platz seines Landes im Zentrum Europas gesehen, so lassen sich heute vielerlei verschiedene Strömungen ausmachen. Von einem als selbstverständlich empfundenen europäischen Lebensstil vieler, insbesondere junger Menschen, bis hin zur krassen Ablehnung als europäisch verstandener Werte vor allem durch islamistisch geprägte Weltanschauungen, öffnet sich ein facetten- und variantenreiches Spektrum verschiedenster Haltungen. Hier über ideelle Zugehörigkeiten oder Distanzen zu urteilen, scheint schwer, wo nicht gar unmöglich. Wenn nicht bereits diese spannungsgeladene Vielfalt wieder als zum eigentlichen Kern einer modernen europäischen Mischkultur gehörend erachtet werden sollte.
Die Diskrepanz zwischen dem Wunsch und der Wirklichkeit nach einem engeren Zusammenschluß und auch der faktischen Zurückhaltung anderer, bereits als zugehörig Erachteter, stellt allerdings eine nicht geringe Herausforderung an die Struktur eines europäischen Selbstverständisses dar. Drängen die osteuropäischen Staaten bewußt und forciert auf die Aufnahme in die - bislang noch - maßgeblich von den wohlhabenderen westlichen Staaten dominierten und errichteten Institutionen, so versuchen diese, vor allem unter Berufung auf ihre eigene prekäre finanzielle Situation, diese Anbindung, wo nicht zu hintertreiben, so doch deutlich zu verzögern. Daß sich in der europäischen Praxis solcherart eine Lücke auftut, zwischen dem, was als politischer Wille bekundet bleibt und dem was de facto Umsetzung findet, ist ein nicht zu unterschätzendes Problem für die Glaubwürdigkeit eines sich behutsam gerade erst einenden Europas. Erstrebenswerter erscheint den führenden Industrienationen Westeuropas allem Anschein nach in vielen Fällen die bestehenden Anbindungen insbesondere nach Nordamerika zu pflegen und zu intensivieren, da die internationalen wirtschaftlichen Verflechtungen eine weit gewichtigere Rolle spielen, als man dies gemeinhin zuzugestehen bereit ist.
Der immer wieder als gewachsen betonte Wertezusammenhang zwischen den auch in einem militärischen Bündnis zusammengeschlossenen transatlantischen, insbesondere den angloamerikanischen Partnern läßt die Frage virulent werden, ob es denn überhaupt noch Sinn machen kann, gegenwärtig von einer europäischen Frage im engeren Zusammenhang zu sprechen.
Fassen wir also den Versuch einer Bestimmung des gegenwärtigen europäischen Weges zusammen, so ergibt sich ein stellenweise inhomogenes Bild, das recht deutlich ökonomische, ethnische, weltanschauliche und geographische Divergenzen in sich begreift. Diese - je nach Gesichtspunkt gewichtete - heterogene Stimmigkeit oder auch ›klare‹ Dishomogenität ist es, was als Grundlage jener bereits vorgestellten Dynamik des historischen Prozesses bestimmt sein mag. Um sich dieser gleichwohl schwierig zu fassenden, so doch konkret gewordenen und sich auf uns auswirkenden kognitiven Vielstelligkeit begrifflich zu nähern und um mit ihrer Relevanz auch die Vorstellung einer auf die gemeinsame Zukunft hin ausgerichteten Handlungsanforderung zu verbinden, sei hier nun formal von den mit diesen Gegebenheiten verbundenen ›Optionsräumen‹ die Rede. Diese Optionsräume als progressive terminologische Fassung des europäischen Rahmens sind damit zugleich global wie sie regional sind, meinen die Gegensätzlichkeit zwischen einer historischen Bedingtheit (vielleicht sogar Retardiertheit) sowie der unabgeschlossenen Vision einer kommunikativ erreichbaren Gemeinschaftlichkeit. Sie stellen bei allen modernen Diskurszusammenhängen systematisch immer auch eine internationale Dimension des Geschehens vor, wo ausdrücklich von europäischen Zusammenhängen die Rede ist.
In diesen Relationen europäisch denken zu lernen, heißt dann vor allem, sich beständig neue Orientierungen zu suchen, sich über seine Ziele im Bereich der besonderen europäischen Perspektive je schon im klaren zu sein, diese damit aber nicht als etwas letztgültiges zu erachten, sondern sie schlicht und angemessen selbst als Teile, als Chancen und Hindernisse des bestehenden Wirkungsspektrums zu denken. Als die wichtigsten Optionsräume einer künftigen Entwicklung seien hier nun drei Herausforderungen benannt, welche auf jeder dieser Ebenen ihre Auswirkungen deutlich zeigen werden und untereinander in enger Verflechtung und Wechselwirkung stehen.
Erstens der gegenwärtig in Europa erkennbare gesellschaftliche Wandel hin zu einer Ära des digitalen Kapitalismus mit den damit zusammenhängenden Fragen von Bildungshoheiten und Chancengleichheit sowie nach dem Stellenwert, dem Anforderungsprofil und der Anerkennung menschlicher Arbeit.
Zweitens die rasante Veränderung angewandter Technologien, insbesondere der Medientechnologie und den hieraus resultierenden Risiken von Manipulation und der mangelnden Beherrschbarkeit de facto unerkennbarer Risiken.
Drittens die Frage nach dem Umgang mit den genetischen Ressourcen des Planeten, also die wachsende Gefährdung, den bestehenden dynamisch-labilen Naturzustand, welcher sich gegenwärtig noch zwischen den Polen künstlicher artübergreifender Manipulation und weltweiter Verarmung des Erbguts durch die irreversible Zerstörung einmaliger Habitate und endemischer Lebensformen zu halten vermag, defintiv aus seinem systematischen Gleichgewicht zu stoßen.


Auf dem Weg in den digitalen Kapitalismus

Grenzenloser Enthusiasmus bestimmt den Tenor freier Wirtschaftslenker und auch jenen der prophetisch agierenden Börsianer: "Auf zur Sonne, dem Lichte entgegen" oder zumindest immer ähnlich klingen die Parolen einer neuen Zeit. Es werde die Ära eines allgemeinen Wohlstands anbrechen, Leistung lohne sich wieder, heißt die Prognose. Die anrüchige Frage nach den Grenzen des Wachstums könne und solle derzeit keiner mehr ernsthaft stellen, denn unter den völlig gewandelten Voraussetzungen einer beständig fusionierenden, synergierenden und dienstleistenden Hochtechnologiegesellschaft spielen schwindende Rohstoffe eine Quantité négligeable, die damit einhergehenden Probleme von Umweltzerstörung und antizipierter Warenverknappung dürfen in einer Analyse der bestehenden Wirtschaftsverhältnisse nicht mehr zu jenen absurden Schreckensszenarien hochstilisiert werden, wie dies noch vor 20 Jahren leichtfertig möglich war.
Der einstige Arbeiter werde zum marktkapitalisierten Nutznießer und unabhängig agierenden flexiblen Leistungsträger einer immens verflochtenen und Mehrwert ausschüttenden dezentralisierten Gesellschaft der Gesellschaften. Sozialer Wohlstand in seiner neuen Dimension könne erst aus diesen infinitesimal freigesetzten Hedonismen in einem aufrechten, da selbstgemachten Sinne geschaffen sein.
Neuartig ist das Prinzip ökonomischer Verabsolutierung in existierenden als auch in historischen Gesellschaften allerdings keineswegs. Der Machtanspruch nahezu aller Eliten stützte sich von jeher auf den Besitz knapper Güter, die Kontrolle von Arbeitsleistungen oder vergleichbaren Werten. Nicht erst seit Einführung der Geldwirtschaft ist die Konsequenz der Besitzlosigkeit den am öffentlichen Leben teilnehmenden Menschen - mitunter schmerzhaft - bewußt, entscheiden Vermögen und soziale Position oftmals über Leben oder Untergang des Individuums. An den absolutistischen Höfen Europas wurde diese akkumulierende Hierarchisierung und die damit einhergehende Entwertung der nicht partizipierenden menschlichen Existenzen ins Maßlose gesteigert. Die seit der Französischen Revolution und mit Etablierung demokratischer Verfassungen deutlich zurückgehende Massenverelendung gründet in einem neuartigen Verständnis nicht nur der Rechte des Individuums, sondern auch dem Wissen um die sozialen Folgen und positiven Konsequenzen einer allgemeinen Bildung. Nicht zuletzt die Erhebung dieser Prinzipien zu einem geschichtsphilosophischen Modell führte im 20. Jahrhundert zur politischen Spaltung des Europas. Mit dem Ende jener weltanschaulichen Gegensätze, mit dem nahezu vollständigen Sieg des Kapitalismus am Ende des Jahrhunderts, scheinen nun jedoch die Karten auch innerhalb des - vormals immer umsichtig auf interne Stabilität gerichteten - Blocks neu gemischt zu werden. Bestand das System vorher nur in vitaler Konkurrenz zu seinem Komplementär, so sind nun seine immanent dämpfenden Spielarten, wie die soziale Marktwirtschaft, zu mehr oder weniger überflüssigen, ja hinderlichen Rudimenten geworden. Ein totaler Triumph bedeutet solcherart auch Veränderung und tektonischen Druck nach innen. Eine mit diesem Wandel verbundene Problematik ist jene, einer neuen, sich nach pekuniären Möglichkeiten richtende Bildungshoheit, welche einzig in der Lage ist, sich den enormen technologischen Veränderungen der Gegenwart anzupassen und aus dieser Kenntnis ihren Nutzen zu ziehen.
Nicht die warenschaffende Produktivkraft einer Industrie in heutigem Sinne und schon gar nicht die nahrungserzeugende Landwirtschaft scheinen in der näheren Zukunft bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Leistungsbilanz die entscheidende Rolle zu spielen, sondern es ist das derzeit nur schwer zu erkennende und sich erst allmählich abzeichnende Feld einer Hochtechnologiegesellschaft, welche weitestgehend automatisiert die eigentlichen Produkte einer radikal gewandelten Wertschöpfungskette hervorzubringen vermag. Das Wissen um die Herstellung von Computerchips der neuesten Generation, die Etablierung von Software als Weltstandard bedeutet bereits derzeit für einige Unternehmen eine ökonomische Bilanz, welche die kleinerer Staaten um ein vielfaches übertrifft. Die patentrechtliche Sicherung genetischer Codes, der Besitz globaler Telekommunikationsnetze, die Fähigkeit, Märkte der Zukunft überhaupt als solche rechtzeitig zu identifizieren und Anwendungstechnologien für diese bereitzustellen, sind die de facto entscheidenden Momente geworden, welche auch über die theoretische Möglichkeit der Verteilung von finanziellen Mitteln innerhalb der Gesellschaft bestimmen.
Der freie Zugang respektive die Zugehörigkeit zu Institutionen, die solches Wissen zu vermitteln vermögen, derzeit vor allem die nordamerikanischen, japanischen und europäischen Universitäten und Großunternehmen, ist damit ein Punkt von ›nicht nur‹ internationaler sondern gerade auch von innereuropäischer Brisanz. Es ist vor diesen Hintergrund ernsthaft zu fragen, welchen Stellenwert jedwede andersgeartete Arbeitsleistung noch erhalten mag, die nicht mehr diesem ›inneren Zirkel‹ einer progressiven Wissensvermehrung und der Anwendung seiner spezifischen Kenntnisse zugehörig ist. Die auf ›schlanke Produktion‹ und Automatisierung gerichteten Prozesse benötigen menschliche Arbeitskraft in noch weit geringerem Maß, als dies die Rationalisierungsbestrebungen der jüngeren Vergangenheit ahnen ließen.
Nicht zuletzt also die kollektive Entscheidung als politisch bindender Maßstab über die Anerkennung der Arbeit und den Stellenwert einzelner Arbeitsleistungen ist damit als eine zentrale Herausforderung an die europäische Zukunft zu benennen. Welcher ›Wert‹ kommt etwa sozialen Leistungen zu, die in Pflege, Erziehung und Gesundheitswesen erbracht werden? Ist eine gegebenenfalls aufwendigere naturnahe und ethische Landwirtschaft als gesellschaftlicher ›Wert‹ angemessen zu veranschlagen? Hier wird die aktiv partizipierende Einbindung der Bevölkerung in die Prozesse einer sich abzeichnenden und gerade die ›Masse‹ der Bevölkerung nicht bzw. nur als Konsumenten benötigenden Informationsgesellschaft über den Bestand und Wohlstand eines zukünftigen Europa entscheiden.


Datenströme. Oder: Ich weiß etwas, das du nicht weißt

Als einer jener technologischen Knotenpunkte scheinen sich die Verfahrensweisen des konsequenten Erwerbs, der raschen Verbreitung und der Vermittlung von Informationen herauszukristallisieren. Als prägnanter Terminus mag hier die Wendung ›Medientechnologie‹ greifen. Nicht zuletzt der Zugang und die Kontrolle über diese Technologien und ihre Inhalte bedeuten ein enormes Machtpotential. Auch in diesem besonderen Zusammenhang besteht zwar eine historische Dimension, welche gerade etwa in militärischen Konflikten oder in Anwendung von Propaganda den immer schon und zunehmend erkannten Nutzen von Besitz und (selektiver) Weitergabe der Information deutlich vor Augen führte.
Dennoch kann auch hier gegenwärtig von einem geradezu qualitativen Umschlag in Umfang, Form und Bedeutung des genutzten Datenmaterials gesprochen werden. So mag als vielleicht evidenteste Neuerung die Einführung des Internets und von Intranetzen benannt sein, welche als beständige Datenströme alle nur denkbaren Funktionen einer modernen Gesellschaft tangieren. Ein Vergleich mit den in Organismen die vitalen Funktionen erhaltenden Kreisläufen drängt sich geradezu auf. Das Wohl und Wehe ganzer Industriezweige hängt von der permanenten Verfügbarkeit relevanter Daten ab, der Kurseinbruch einzelner Ressourcen an den Weltbörsen etwa kann, um Minuten verkannt, für ganze Konglomerate den wirtschaftlichen Ruin bedeuten. Doch im Zusammenhang des weiteren thematischen Rahmens bleibt wichtiger noch eine tiefgreifende Neuerung im Wandel der Funktion dieser Technologie zu benennen. Sie ist allerdings einzigartig und geeignet, die gesamte Spannweite ihrer heiklen Ambivalenz aufzuzeigen. Im Zusammenhang mit dem in Form eines Epilogs formulierten Scheitern der aufgeklärten Mythen als auch dem Hinweis auf die gesellschaftlich real gescheiterte Utopie, verbleibt uns eigentlich nur noch die ganz unmittelbare Gegenwärtigkeit als Ort einer Selbstbestimmung.
Die aktuale Gefährdung einer weitreichenden Entwertung menschlicher Tätigkeit über ihren schlichtest verhandelbaren Wert hinaus, als Marktwert, deutet prägnant auf die Chance und das Risiko dieser neueren medialen Wirklichkeit. Als wichtigstes Instrumentarium einer - positiv selbstreflexiv, negativ nur selbstreferentiell - organisierten Gesellschaft wird sie zum maßstabgebenden Organon des Diskursprozesses, welcher alle zu erhaltenden bzw. im Wandel zu konstituierenden Werte zu formieren in der Lage ist. Damit kann dann auch dasjenige praktisch begriffen werden, was bereits theoretisch als epochale Neuerung vorgestellt wurde: die Verhandelbarkeit von Konstrukten, an welchen zugleich nichts mehr beliebig ist. Die Stimmung der Bevölkerung, ihre Selbsteinschätzung und Ziele, werden durch die medialen Systeme geprägt, gelenkt, formuliert.
Dies zeigt aber auch einen geschichtlich sich einmalig vollziehenden Wandel an: weg von unbezweifelt überkommenen und übergeordneten Werten, hin zu kommunikativen Interaktionsvorgängen als relationalen Marken allgemeiner Handlungsorientierung. Letztere sind nun als Inhalte, als Gehalte, vielleicht sogar selbst wieder als Mythen und Utopien in einem gewandelten Sinne aufzugreifen und fortzuschreiben, dies nun aber in doppelter Form. Zunächst kann dieser Prozess unter dem Aspekt seiner Bedrohlichkeit begriffen werden. Dank einer sogenannten Bildungshoheit kann über Form und Präsentation der Inhalte zielgruppenorientiert deren Signifikanz bestimmt werden. Einer globalen Manipulation stünden damit ungeahnte Möglichkeiten zur Verfügung, Nachrichten beliebig zu steuern, sie nach Interessenlage gänzlich zu unterschlagen, sie umzudeuten. Eine oligarchisch kontrollierte Medienstruktur liegt ohne weiteres im Bereich des Vorstellbaren, ist in Teilen bereits gegeben. Offenheit in bislang unbekanntem Ausmaß hingegen, eine ungefilterte Demokratisierung der Daten als unkontrollierbare Verbreitung subjektiver Stellungnahme und betroffener Selbstbekundung, muß jedoch gleichfalls als diesen Umständen einer sich beständig wandelnden Medienlandschaft inhärente Chance gelten. Eine gezielte Verheimlichung von Informationen, eine Hintertreibung unliebsamer Positionen kann nahezu unmöglich gemacht werden, die Unüberschaubarkeit der Vermittlungsstrukturen kann zumindest im Keim jede Oktroyierung abstreifen, ihren Versuch selbst öffentlich machen und anprangern, vermag sie auf vielerlei Wegen zu umgehen.
Als während des Kosovo-Krieges die gleichgeschalteten nationalen Medien wie auch die internationalen Korrespondenten sich gehindert sahen, über die Lage der Betroffenen im Krisengebiet zu berichten, gelang es einzelnen Personen mittels Internet, die Schilderungen ihrer Lebensumstände täglich in alle Welt zu übertragen. Der Umgang mit diesen Informationen in Form ideologischer Nutzung und regelrechter Okkupation durch alle beteiligten Interessengruppen zeigte jedoch umgehend wieder den problematischen Verlauf einer partiell schon gegenwärtigen medialen Wirklichkeitsbildung als Kampf um Wirksamkeit - bis hin zu einem im Extrem sich leerlaufenden Betroffenheitskult, dessen Wurzeln vielleicht in der Überforderung durch diesen permanent die Aufmerksamkeit beanspruchenden Prozess kritischer Informationsverarbeitung durch das Individuum liegen. Hier mag sich allerdings auch schon vorsichtig die erste Grenze dieser Entwicklung andeuten.


Dolly in der Wüste

Allen diesen neueren Entwicklungen eignet aufgrund ihrer ungeheuren Schnelligkeit das Moment einer weitgehenden Unüberschaubarkeit. Die Abfolgen und Entwicklungsstränge einzelner Technologien und ihrer Nutzanwendung sind selbst auf die Sicht nur weniger Jahre nicht mehr prognostizierbar, allenfalls höchst vage Zukunftsmodelle können überhaupt noch einen Anspruch auf Gültigkeit erheben. Ironisch formuliert erschöpft sich bereits heute ihr Wert zumeist in einer Deskription ihres ständigen Wandels.
Dieser Unschärfe menschlichen Begreifens steht eine hierdurch besonders konturierte Konsequenz gegenüber: die ausschließlich anwendungsorientierte Haltung gegenüber der Vielzahl an Technologien scheint nicht mehr oder nur in sehr geringem Umfang noch in der Lage zu sein, auf die unmittelbaren negativen Folgen einzelner Entwicklungen zu reagieren. Diese Folgen können allerdings mittlerweile durch das hohe effektive Niveau etwa chemischer und biologischer Substanzen von höchst dramatischer Natur für das gesamte System der Biosphäre sein, sich darüber hinaus auch noch gegenseitig fördern, hemmen oder sogar potenzieren. Ein scheinbar banales Unternehmen, die Verwendung und Freisetzung eines einzigen chemischen Stoffes in die Atmosphäre mag die katastrophalsten Auswirkungen haben. Seine Fernwirkungen mögen sich aufgrund der unglaublichen Komplexität der Zusammenhänge auch noch um Jahre wenn nicht gar Jahrzehnte versetzt zeigen. Allerdings: eine Enthebung von diesen mitzuverantwortenden Konsequenzen unseres Handelns wird es deshalb nicht geben.
Als der am naheliegendsten zu erkennende Akkumulationspunkt solcher Problematik mag sich in den nächsten Jahren wohl die Gentechnologie erweisen. Es handelt sich hierbei nicht um eine Kritik hinsichtlich deren prinzipieller Anwendung, wie sie sich etwa in medizinischen Therapien nach ausgereiften Studien in vielen Bereiche bewährt hat, sondern weit mehr um deren pauschale Anwendung in den verschiedensten Umweltbereichen. Verstarben bislang weltweit eine Handvoll Allergiker an gentechnisch veränderten Lebensmitteln, so sollten diese unbedingt als Seismographen einer künftigen Entwicklung ›schicksalhaft‹ ernstgenommen werden. Daß nach allen Querelen um einen europäischen Standard hinsichtlich allein nur der Auszeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel einzig der kleinste gemeinsame Nenner eine Durchsetzung fand, läßt in diesem Zusammenhang Schlimmes ahnen. Die in der Praxis durch den Verbraucher unter realen Bedingungen nachgereichten Unverträglichkeitsprüfungen werden denn wohl auch in einigen Fällen gravierend sein. Die im Umfeld der Genetik auftauchende Problematik ist darüber hinaus zugleich eine paradoxe: Schwinden weltweit, auch in Europa, einmalige Habitate durch Landnahme und agrartechnische Verwüstungen dahin, sterben endemische Lebensformen sowie auch über Jahrhunderte gezüchtete hochadaptive und resistente Nutztierrassen aus, wird zugleich versucht, die genetische Basis durch artübergreifende Rekombinationen zu erweitern; dies ohne allerdings bislang auch nur im Ansatz ein grundlegendes Verständnis für die im Erbgut angelegten Wirkmechanismen entwickelt zu haben.
Gerade Europa, das nach anfänglichem Zögern nun auch in diesem Bereich wissenschaftlich rasant aufzuholen beginnt, wird ein Zentrum für diese Schlüsseltechnologie des nächsten Jahrtausends sein. So sollte denn auch jetzt schon ein scharfes Bewußtsein für die kommende Verantwortung hinsichtlich des Anwendungsrahmens der neuen Technologie entwickelt werden. Zu welchen Ergebnissen die Forschung führen, mag ist ungewiß, nicht hingegen die Gefährdung, welche sie unweigerlich in ihrer forschen Pragmatik mit sich führt. Nicht daß wir dereinst dastehen wie die geschorene Dolly, unschuldig dreinschauend, ohne Vorstellung davon, was um uns herum geschieht und dabei wie Goethes Zauberlehrling nur wissen, was wir angestoßen haben, nicht wie mit den Folgen umzugehen ist. Und dabei sind bereits heute wichtige genetische Ressourcen unwiderbringlich verloren. Daß wir sie in unseren Experimenten wiederfinden werden, ist kaum wahrscheinlich. Ein Schritt nach vorn, zwei zur Seite, dann erst wären wir wirklich weiter.


Die Kreise schließen sich

Sich im Kreise zu drehen und nichts dabei zu finden, kann auf die Dauer sehr ermüdend sein. Und bleibt fruchtlos obendrein. Sich hingegen mit Schwung, in gewollter Bewegung aus der eigenen Mitte heraus um die eigene Achse zu werfen und dabei nach allen Richtungen zu spähen, sich einen Horizont zu schaffen suchen, ist etwas ganz anderes, davon völlig geschiedenes. Es ist sogar das einzige, was wir wirklich tun können. Dabei geraten wir - mitunter - in Anschluß an andere, zunächst fremde Kreise, an andere Mittelpunkte, welche eine gewandelte Perspektive jener Sachverhalte vorstellen, die auch wir gewahren. Und wenn wir recht sehen, sind wir dank dieser fremden Kräfte dann selbst ein Stück vorangekommen, haben unsere eigene Mitte ein Stück verrückt, haben auch andere Sichtweisen in uns aufgenommen - und - vielleicht auch andere Perspektiven angestoßen.
Wenn wir von hier aus wieder die Frage nach der Frage aufrollen, wird unser Weg, unser Wurf, bei gleicher Bewegtheit doch wohl ein ganz anderer, ein neuer sein. Es läßt sich über vieles sprechen und zwar in vielen Sprachen, wovon jede etwas besonderes, etwas einzigartiges zu leisten vermag. Sprechen wir über die aggressive Wirklichkeit des Geldes, über die Chancen und Risiken der Medien und der Gentechnologie, sind unsere Worte spröde, konkret. Sprechen wir über unser eigenes Erkenntnisinteresse, unsere persönlichen Utopien und Hoffnungen, geben wir uns vielleicht sogar etwas poetisch, werden ganz bildhaft und manchmal sogar eigentümlich. Reden wir über unsere Zeit und ihre historischen Propheten mögen wir ironisch, polemisch und dennoch mitunter respektvoll klingen. Anders aber als diese Einstigen haben wir heute einen unsicheren Stand, der um diese seine unsichere Befindlichkeit recht genau weiß. Europas Weg zu beschreiben, ihn gar zu ahnen, scheint schwierig.
Unser Blick ist polyskopisch und offen. Doch gerade diese Offenheit zu erlernen, und zwar im Angesicht der benannten Herausforderungen, könnte als die eigentliche und epochale Herausforderung an ein künftiges europäisches Denken verstanden werden. Und wieder: Offenheit meint damit nicht Beliebigkeit sondern Kommunikation, diese allerdings in einem sehr weiten, dem umrissenen, immer auch konkret wertenden und perspektivischen Rahmen. Mythen, Topoi und Utopien sind erst in solchem Austausch zu gewinnen, zu vermitteln.
Was als besserer, was als schlechterer Weg und was schließlich sogar als Hoffnung und letztes Ziel allen Bemühens verstanden werden soll, liegt damit auch immer an unserer gewollten Bekundung und an unserer ständigen Bereitschaft, uns auf diesen Prozess des Tauschens einzulassen. Daß wir verstanden, ja überhaupt gehört werden, darauf dürfen wir, wie bereits erwähnt, keinen selbstverständlichen Anspruch erheben. Aber daß wir verstehen, uns auf die fremde Sprache, auf den ganz eigenartigen Ausdruck der Anderen einzulassen, darauf haben wir sehr wohl Einfluß. Vielleicht zeigt sich genau hierin aber auch erst der Weg einer neuen Offenheit und eines gemeinsamen Erfolgs. Und die Kreise, die eigenen und die einst fremden, sie schließen sich dann doch.