Europas
Weg: Mythos, Topos, Utopie
Oder
Der entgrenzende Reiz eines eingängigen Epilogs
Und über sich doch schließende Kreise
Ein Beitrag zum Saarbrücker-Wettbewerb
Formuliert als der progressive Versuch einer Antwort
Auf die Frage des Jahres 2000
"Wie und wozu lernen wir,
europäisch zu denken"
von
Johannes Schnurr
(Heidelberg)
Inhalte und Progressionen
Frage nach der Frage! Die Frage öffnet sich. Die Frage hat eine
Geschichte. Aus dem Rahmen gefallen: Die Skepsis beginnt zu greifen.
Der Topos ist das Ende der Utopie, wenngleich es umgekehrt behauptet
wurde. Der Mythos ist die Einheit beider Momente. Der Epilog. Er führt
uns zu einer ersten Antwort. Reizworte: Wunsch und Wirklichkeit, Möglichkeit
und Machbarkeit. Die Wurzel der Perspektivität. Optionsräume:
Weitere Antworten. Auf dem Weg in den digitalen Kapitalismus. Datenströme
oder Ich weiß etwas, das du nicht weißt. Dolly in der Wüste.
Die Kreise schließen sich.
Frage nach der Frage!
Daß eine Frage, oder vielleicht besser deren einschränkungsloses
Bedenken, den ersten Schritt beginnender Erkenntnis bilde, darf als
ausgemachter Allgemeinplatz gelten. Sicherlich zu Recht, so diese Frage
eine wirkliche Offenheit in sich trägt und auch der Antwortende
ein redliches Bemühen zeigt, sich auf diese einzulassen, sie aufzugreifen,
weiterzutragen und - so ihm dies denn möglich ist - auch zu beantworten.
Hier zeigt sich jedoch ein erstes Hindernis, öffnet sich ein vielstelliger
Raum, welcher der eigentlichen Beantwortung wesensgemäß vorausliegt,
ja wohl als die Frage der Frage gelten mag und damit gleichsam sein
erstgeborenes Recht auf Beantwortung beanspruchen darf: Die Frage nach
dem Wesen der Frage. Diese ursprüngliche Frage liegt den konkreten
Inhalten der geformten Frage immer voraus. Das Wesen der Frage liegt
in ihrer vorgängigen Unausgemachtheit, ihrer positiven Unsicherheit,
ihrem ganz allgemein vorzustellenden Noch-nicht. Allgemeinheit
meint hierbei aber gerade nicht Willkür und Beliebigkeit.
Wird diese erste Frage nicht gestellt, beginnt man sozusagen mittendrin,
bei den formulierten Inhalten, den Topoi, der schon gestalthaften Frage,
muß das Ergebnis einer möglichen Anwort nicht unbedingt falsch
sein; aber seine Richtigkeit darf dann doch auch nicht so ohne weiteres
als erwiesen gelten. Sollte denn dem Prinzip nach überhaupt jemals
so etwas wie Richtigkeit in unserem Denken gewonnen sein, muß
es sich seiner Quellen vergewissern, darf es nicht den schnellen, den
vielleicht einfacheren Weg gehen und schlicht behaupten: "So ist
das". Ohne Rücksicht auf jenes hinter der Frage selbst liegende
Moment des Fragens können wir nicht eigentlich Anspruch darauf
erheben, was Kommunikation in einem weiten Sinne meint. Uns mit etwas
auseinanderzusetzen zeigt auch, wer wir gerade sind und was wir uns
zu bedenken bereit finden. Es bleibt also dringend angezeigt, uns allererst
selbst darüber zu befragen, wem und worauf wir denn Antwort geben,
auf wen und was wir uns in unserer Antwort einlassen und dann erst wie
dies im einzelnen denn geschehen möge.
Die Frage nach der Frage deutet somit auf einen weiteren Aspekt, einen
Aspekt, der sie als Frage zuallererst ermöglicht, ihr Gestalt gibt.
Sie hebt sich von einem ganz bestimmten und einmaligen Hintergrund ab,
gewinnt ihre Kontur durch ein Umfeld, das sie als fragende Figur
in den Bereich einer eigenen Sinnhaftigkeit einläßt. Es ist
ein Bereich der seine Formen kennt und gefunden hat, der je schon deutliche
Bezüge aufweist. Es sind dies historische, personale, ökonomische,
künstlerische Befunde, ja sogar - und sei es in Negation und Ausklammerung
- in der einen oder anderen Art und Weise immer wohl auch metaphysische.
Es ist die hintergründige Motiviertheit der Frage, welche sie dann
dasjenige werden läßt, was und wie sie ist. Wir
sehen eine Folge. Sie beginnt im Konkreten und taucht erst nach dem
Durchgang durch ein nicht einfach zu fassendes Allgemeines wieder als
Konkretes auf. Als ein Konkreteres allerdings, dessen Vorhandensein
eine besondere Weise zu sein darstellt: in seiner Offenheit, seiner
Einzigartigkeit, seiner markanten Individualität. Und auf diese
Offenheit und jene Vorstellungen, die hinter und vor ihr stehen, gilt
es sich damit fragend einzulassen.
Nachdem wir uns solcherart darüber verständigt haben, daß
es etwas sei, was der Frage ihre Form und ihren spezifischen Wert gebe,
ist diese so aufgenommen, daß sie nun zu Sprache gebracht werden
kann und zwar im ersten Grade ihrer Konkretheit. Die gestellte
Frage lautet: "Wie und wozu lernen wir, europäisch zu denken?"
Die Frage öffnet sich
Die formulierte Frage ist öffentlich. Sie ergeht an den Befragten
nicht nur als privatime Bekundung und ist damit auch nicht geeignet,
eine nur und ausschließlich persönliche Antwort herbeizuführen.
Es handelt sich keineswegs um eine Spitzfindigkeit diesen Sachverhalt
ausdrücklich festzuhalten. In einem anderen sozialen Umfeld, einem
ungleichen persönlichen Zusammenhang, würde nämlich auch
eine potentielle Antwort radikal anders ausfallen. Wenn denn überhaupt
eine erginge. Wenn denn dort prinzipiell eine vergleichbare oder sogar
identische Frage denkbar erschiene, was wir vorab als höchst unwahrscheinlich
annehmen dürfen.
Diese öffentliche Frage, in ihrer in doppelter Lesbarkeit offengehaltenen
Form, leitet sich von einem - wir haben es vorab angedacht - besonderen
Bezug her. Ein Bezug, welcher selbst auf eine überkommene Geisteshaltung
referiert. Der Wettbewerb selbst bekundet sich offen zu der Folge, in
der er sich selbst erkennt und als in welcher befindlich er auch angesehen
werden mag. Er gibt damit im weiteren auch die besondere Folge
einer Antwort, ihren bewußten Rahmen und ihr Gewicht, explizit
an.
Die Frage hat eine Geschichte
Die Geschichte einer Frage beginnt in einer mehr oder weniger dunklen,
diffusen Vergangenheit. Wenn wir sie beantworten, greifen wir also diese
ihre Geschichte mit auf, reihen eine eigene Geschichte an und schon
ist alles zusammen wieder in einem mehrfachen Sinne geschichtlich geworden.
Oder zumindest so beinahe. Was meint das? Geschichte und Geschichten
haben eine enge Verwandtschaft. Es bricht damit die Zeit an, es ist
Leben und Farbe ins Spiel zu bringen, es gilt Namen zu nennen, Fakten
hervorzukehren und ihre Bezüge, ihre Verflechtungen deutlich zu
machen.
Die Tradition, um ein schweres Wort zu gebrauchen, solch öffentlicher
Fragen und ihrer pointierten Beantwortung reicht in das 18. Jahrhundert
zurück. Die literarisch bewußt offensiv und diskursiv geführte
Auseinandersetzung mit Problemen des gesellschaftlichen und politischen
Lebens stammt aus jener Epoche her. Die damals recht gezielt für
gebildete Bürger und Berufsgelehrte formulierten Fragen dürfen
in vollem Umfang als ein Spiegel ihrer Zeit gelten, wie auch die hier
auftauchende Frage damit ein sprachlich auskristallisierter Punkt zu
sein beansprucht, welcher für einen sehr speziellen Inhalt stehen
mag, der uns gegenwärtig und unmittelbar betrifft.
Es geht also zentral darum, sich auf ein Thema einzulassen, das uns
ganz aktuell bewegt. Hier berühren sich Theorie und Praxis aufs
engste. Ziel ist es, seine persönliche Antwort aus dieser anerkannten
Bewegtheit heraus zu modellieren. Sie in eine bewußt reflektierte
und dadurch neue und bessere Bewegung umzusetzen,
sie wesensmäßig zu verwandeln. Aus der Bewegtheit zur Bewegung,
dies ist das Verhältnis von Geschichte und Geschichten. Allerdings:
Diese Formulierungen können uns in eine prekäre Ambivalenz
führen. Oftmals hat der überpersönliche Kollektivsingular
Geschichte nichts mit unseren persönlichen, biographisch
gefärbten Geschichten zu tun, er scheint sie gleichgültig
zu verschlucken, was wir zu sagen haben scheint vor ihr geradezu ohnmächtig,
irrelevant, folgenlos. Aber Antwort geben heißt auch dies in Kauf
nehmen. Nicht gehört zu werden, seinen Versuch dabei weiterhin
ernst zu nehmen, ohne Anspruch auf Erfolg und Wirksamkeit. Doch dieses
ganz ungesicherte Bemühen gehört zur Relevanz einer wie auch
immer gearteten Antwort. Deshalb war bisher auch noch an keiner Stelle
von mehr die Rede als dem Versuch.
Aus dem Rahmen gefallen: Die Skepsis beginnt zu greifen
Gilt es, im besonderen historischen Rahmen der Antwort, in dessen Kern
die Dimension Europa als Horizont der Frage enthalten ist,
einen ersten Oberbegriff für unseren Versuch zu finden, so kann
dieser nur lauten: Aufklärung. Und so mögen auch
wir uns - selbst im gegebenen Rahmen antwortend - natürlich gerne
einem solchen großartigen Unterfangen wie demjenigen der Aufklärung
anschließen und es selbst in eine noch ungewisse Zukunft forttragen.
Gerne auch die kommende Zeit in diesem Sinne mitgestalten. Waren es
doch unzweifelhaft hohe und durch und durch humanistische Ziele, welche
die Aufklärung als Epoche propagierte. Die aufrichtige Bejahung
und systematische Beförderung von bildender Kunst, von Wissenschaft,
Dichtung und Philosophie. Es war der Wille jener Vorreiter, die Gesellschaft
aus ihren angestammten Zwängen zu befreien. Sie wollten die Geister
ihrer Zeitgenossen aufklären, Licht in ein bislang
recht finsteres Jahrhundert bringen, sie riefen das "Siècle
des lumières" aus. Zeit und Ort dieser Wirksamkeit sind
hinreichend bekannt.
Skepsis beschleicht uns jedoch, wenn wir die Frage weiter in der bekannten
Weise unvoreingenommen offenhalten und nach deren ursprünglicher
Motiviertheit forschen. Und damit verändert sich die Perspektive
deutlich. Könnte es denn tatsächlich sein, müssen wir
uns dann fragen, daß nunmehr, auch nach 200 Jahren, das eigentliche
Ziel dieser Aufklärung immer noch nicht erreicht sei? Ist es denn
wirklich möglich, daß dieser für unser menschliches
Bewußtsein wahrhaft lang währende Zeitraum nicht genügt
haben sollte, die bekundeten Ideale, oder etwas weniger absolut formuliert,
all jene damals begeistert entworfenen Konzepte und Programme nicht
umzusetzen? Wäre es denkbar, daß wir immer noch aus dem psychologisch
selben Ursprung uns zu entwerfen gezwungen sind, wie jene ersten Aufklärer?
Dies erwiese sich dann allerdings als das Eingeständnis eines schwerwiegenden
Fehlgehens. Das Projekt Aufklärung wäre damit weitestgehend
gescheitert. Obwohl zeitlich nicht mehr am Anfang stehend, wären
wir inhaltlich nicht über den ursprünglichen Stand, über
die ursprüngliche Problemlage hinausgekommen. Reflexionen über
die vermeintlichen Leistungen der Aufklärung stellen sich in dieser
Distanz damit zugleich auch als implizite Bekundungen ihres Versagens
dar. Der geschichtliche Rahmen solchen Bedenkens und Fortschreibens
hätte sich dann einerseits als Fehlkonstruktion erwiesen, wäre
nur endlos gekettet und schwächlich geblieben und andererseits
paradoxerweise zu einem steifen ideellen Korsett verkommen, welches
es konsequenterweise - endlich - nun zu sprengen gilt.
Der Topos ist das Ende der Utopie, wenngleich es umgekehrt behauptet
wurde. Der Mythos ist die Einheit beider Momente
Es herrscht tatsächlich eine schroffe Differenz zwischen Gestern
und Heute. Und diese ist wahrlich keine geringe, sondern eine radikale
Geschiedenheit, welche die Frage aufwirft, ob wir diese Tradition, wie
sie uns da entgegentritt, überhaupt annehmen können und wollen.
Diese Differenz geht allerdings nicht in die Stoßrichtung jener
sattsam exerzierten und recht polemisch vorgebrachten "Kritik der
Aufklärung", die ihre selbstgewählten begrifflichen Grundlagen
verfehlen mußte, um schlußendlich ihr Recht zu behalten.
Es handelt sich hier vielmehr um die Akkumulation einer im Zeitverlauf
zunehmend schiefgelagerten Erfahrung, welche der konzisen Prophetie
jener ursprünglichen humanistischen Vision diametral entgegensteht.
Es geht um Topos und Utopie. Und es geht vor allem um den aktualen Platz
zwischen diesen Polen: Europas Weg.
Eine der bedeutsamsten Gestalten der Aufklärung stellt unzweifelhaft,
pars pro toto, Johann Gottfried Herder vor. Ihm hat man ganz wesentlich
das Bewußtsein für jene prozessuale Entwicklung zu verdanken,
die wir heute als Geschichte begreifen. Seine Beiträge zu zeitgenössischen
akademischen Preisausschreiben wurden wegweisend in ihren Thesen. Seine
Untersuchungen skizzieren erstmals die Bedeutsamkeit nicht nur der griechischen,
sondern auch der orientalischen und zentraleuropäischen Volkskulturen
für die Entstehung jenes geographisch-historischen Gebildes, welches
uns heute als Europa selbstverständlich erscheint.
Seine synthetischen Anregungen und visionären Leistungen wirken
hier produktiv bis auf den heutigen Tag nach. Sie denken sich allerdings
auch von einer ganz bestimmten Größe her, berufen sich in
ihrer ganzen Schlüssigkeit auf einen zentralen Aspekt, welcher
uns gegenwärtig schwer nachzuvollziehen, ja schier undenkbar geworden
erscheint: Der Weg Europas in die Zukunft ist und bleibt in jedem einzelnen
Moment ein Weg in eine bessere Zukunft. Entwirft Herder auch stellenweise
ein antiklimatisches Geschichtsbild, es sinkt das "goldene Zeitalter"
der israelitischen Patriarchen im Laufe der Zeiten allegorisch bedeutsam
in den Staub eines nur-noch-menschlichen Agierens hinab,
so sind es doch in Wahrheit die einer höheren Ordnung entstammenden
Prozesse einer überall und jederzeit wirksamen "Gärung",
welche alle einzelnen Geschehnisse auf eine göttlich geordnete
und damit auch gesellschaftlich vollkommene Zukunft hin organisieren.
Der Mensch mag seine Situation als problematisch empfinden, als ungeschlichtet
und schmerzhaft. Doch sie ist es nicht im Angesicht einer übergeordneten
Wahrheit und kann es auch a priori gar nicht sein. Herder, als einer
der führenden Visionäre europäischer Einheit, antizipiert
diese Einheit stets in einem höheren Zusammenhang, stellt sie uns
als gewiß und gelingend vor. Der je einzelne Moment einer sich
mitunter wirr und chaotisch zeigenden Lebenswelt, bleibt sub specie
aeternitatis ein unverzichtbarer Meilenstein hin zur letzten Vollkommenheit,
ist, ob als Element der persönlichen Existenz oder als Teil der
gesellschaftlichen Gemeinschaft, präfiguriert anzunehmen und erst
in diesem Sinne handelnd zu bejahen.
Doch die heutige Erfahrung, unser gewordener europäischer Topos,
also unser eigenster geschichtlicher Ort als jüngere Gegenwart
dieses Jahrhunderts, steht seiner Utopie klar entgegen. Er verfällt
in ihr, wird durch sie allenfalls zum falschen, verdrehten Mythos. Herders
aufgeklärte Vision spricht sich prägnant folgendermaßen
aus: "Wer zum Nutzen der Welt berechnen und wägen will, tu's!
Er hat große Summe von meistens nicht ungewissem Ausschlage vor
sich: der Gang der Vorsehung geht auch über Millionen Leichname
zum Ziel!"
Solcherart verstanden - und diese Äußerung ist ganz und gar
nicht untypisch für ihre Zeit - dürfen wir Europa nicht mehr
nur als sukzessiven Vollzug humanistischer Werte begreifen. Wir müssen
seine Geschichte vielmehr als etwas ganz anders ansehen: als eine fortlaufende
Geschichte des Versagens eben dieser Werte.
Der Epilog. Er führt uns zu einer ersten Antwort
Das Projekt Europa präsentiert sich uns gegenwärtig als heilloses
Unterfangen. Wir dürfen es also, um es besser übersehen zu
können, getrost von seinem Ende her denken.
Man geht davon aus, daß derzeit acht Prozent aller Einnahmen in
Europa überhaupt aus kriminellem Erwerb stammen. Ungefähr
ein Drittel aller größeren Immobilien an der Côte d'Azur
wurde mit gewaschenen Drogengeldern finanziert. Ein aufgeblähter
Agrarmarkt produziert ungeheure Überschüsse an Fleisch, Milch
und Butter, eine Umleitung dieser Lebensmittel in bedürftige Länder
findet nicht statt. Hingegen wurden in den letzten Jahren, insbesondere
in Spanien, traditionell bewirtschaftete Äcker in riesige nun maschinell
bearbeitbare Parzellen umgewandelt. Eine zunehmende Versteppung weiter
Flächen war die Folge. Abgeholzte Steineichenwälder wurden
vielerorts durch Monokulturen von Eukalyptus ersetzt, Grundwasserknappheit,
Erosion und Artensterben in Flora und Fauna sind in jenen Regionen mittlerweile
irreversibel.
Das Zentralorgan der europäischen Union, das Europaparlament, taumelt
entscheidungsunfähig von einer Krise in die nächste, Korruptionsfälle
häufen sich und werden durch Verantwortungsträger aus den
eigenen Reihe solange kritisch untersucht, bis restlos alle Vorwürfe
ergebnislos niedergeschlagen sind. Der Minister a.D. Bangemann absolviert
sein recht spezielles und hochbezahltes Praktikum gleich bei einer Aufsichtsbehörde
selbst. Die dort erworbenen Kenntnisse sollen ihm dann beim Wechsel
in den noch hochdotierteren Beruf eben der in seinem ehemaligen Aufgabenbereich
liegende Wirtschaftssparte von Nutzen sein. Woran sich aber vor allem
die Konkurrenz stößt, nicht zu allererst die verantwortende
Politik. Europäischer Verbraucherschutz auf seinem international
hohen Niveau meint: BSE einschließlich Umgehung des verhängten
Exportverbots, Dioxin-verseuchtes Geflügelfleisch samt zugehöriger
Eierproduktion, Gülleverfütterung und Hormonmafia als chronifizierte
Konstituenten eines die Natur deflorierenden agroindustriellen Systems.
Das Europa der Regionen bildet diese Verhältnisse wiederum recht
gut ab: proportional zu den Aktienkursen des Kölner Oberbürgermeisters
steigt die Politverdrossenheit der Bürger, die politische Kaste
süditalienischer Landgemeinden scheint mit dem Begriff Cosa Nostra
recht treffend umrissen. Angelegentliche Versuche, die eingefahrenen
Verhältnisse zu reformieren, schlagen fehl: Vom stillen Einfallsreichtum
des Subventionsbetrügers über bauernkriegsartige Handlungen
subventionsfixierter und -abhängiger Landwirte in Brüssel
und Straßburg bis hin zur Sprengung eines unliebsamen neapolitanischen
Staatsanwalts nebst zugehörigen Leibwächtern und Dienstfahrzeug
reichen die Resistenzen des Bestehenden. Und Andreotti grüßt
seine Daheimgebliebenen mit der Geste des väterlichen Freundes
aus dem Exil einer algerischen Oase.
Wiederholen wir uns die eingängige Frage an dieser Stelle noch
einmal, so wird uns klar, was in diesen gegebenen Zusammenhängen
der Begriff des Lernens in Hinsicht auf ein europäisches
Denken meint. Der Prozess des Lernens mag prinzipiell verstanden werden
als die erfolgreiche Adaptation des Organismus an bestehende Umweltbedingungen.
Und indem wir lernen, illusionslos diese gegenwärtigen Konstellationen
zu begreifen, wird uns auch die europäische Dimension dieser Lernanforderung
klar: Wir müssen versuchen, den größtmöglichen
Nutzen aus dem bestehenden Chaos zu ziehen, jedwede ethische Bedenken
bei Seite zu lassen, uns im Anschluß an eine Lobby unserer Pfründe
vergewissern oder in ein bestehendes Machtvakuum vorstoßen, um
uns dort eine erfolgversprechende Nische zu sichern. Zu erkennen, daß
die Ideale der Aufklärung historisch versagt haben, heißt,
die Idee eines ursprünglichen Hedonismus zurückzugewinnen.
Mit allen Konsequenzen.
Reizworte: Wunsch und Wirklichkeit, Möglichkeit und Machbarkeit
Solche Idiosynkrasie gegen die in ihrer Summe hier nur so halb polemisch
angeführten Beispiele europäischer Machenschaften wird vor
allem verständlich vor dem Hintergrund eines in Europa mitunter
recht plakativ zur Schau getragenen demokratischen Rechtsbewußtseins
und der gemeinschaftlichen Bekundung einer - auch immer international
vorgebrachten - Verpflichtung auf die daraus resultierenden absoluten
Werte von Menschenrecht und freier Entfaltung der Persönlichkeit.
Das Fehlgehen der europäischen Politik im Detail wie auch im großen
Maßstab wirft damit die Frage nach dem tatsächlichen Rahmen
auf, innerhalb dessen wir nun diese obskuren Geschehnisse überhaupt
einzuordnen und zu deuten vermögen.
Diese Ent-täuschung über eine faktische Nichtumsetzung
aufgeklärter Ideale mag groß sein; sie bedeutet jedoch, und
dies gilt es zu betonen, noch nicht das Ende aller Hoffnung auf eine
sukzessive Errichtung verbesserter gesellschaftlicher Zustände.
Hier allerdings zeigt sich eine erste signifikante Veränderung
der inneren Haltung der Betrachtenden zum real-politischen Geschehen.
Man könnte es als erstes Stadium einer veränderten Lernhaltung,
als eines erfahrungsgeschichtlich gewandelten europäischen Selbstverständnisses
erachten, das sich nicht nurmehr den rückhaltlos positiven Vorstellungen
einer teleologischen Geschichtsvorstellung (oder auch ihrem gehaltlichen
Gegenteil - einer gedanklichen Opposition, welche wesensmäßig
so verschieden wohl gar nicht sein mag - der radikalen Ablehnung aller
gemeinschaftlichen Wertvorstellungen) verschreibt: Eine zunächst
vage Vorstellung des europäischen Prozesses als primär unabgeschlossene
und vor allem dynamische Größe. Solcherart wäre das
gegenwärtige Fehlgehen der europäischen Einigung in vielen
Punkten keine lineare Ent- respektive Abwicklung zu entdeckender soziologischer
und historischer Determinanten, ja es wäre vielleicht nicht einmal
mehr ein Fehlgehen an-sich, sondern es bliebe vielmehr allererst
als zu beschreibendes Geschehen, als echter Vorgang zu begreifen, den
zu steuern, zu korrigieren und immer wieder erneut versuchsweise zu
definieren unsere eigentliche Aufgabe ist.
Möchten wir diese weitere, gegenwärtige Deskription des Bestehenden
dann immer noch in epochalen Zusammenhängen begreifen, fällt
uns dies mitnichten leicht, da uns ja schließlich jene obersten
Deutungskonzepte recht deutlich abhanden kamen. Demgemäß
befinden wir in uns zwar noch im wertenden Zusammenhang der Aufklärung,
haben sie aber ihrer inneren Aussagen weitestgehend entleert. Die Entleerung
kann, verknappt formuliert, als einem negierenden modernen Bewußtsein
gedankt begriffen werden, aber auch dieses zeigt in seiner sprach- und
erkenntniskritischen Negativität als positiver Leistung einen deutlichen
Mangel. Gerade in der Abkehr wird an etwas Bestimmbarem festgehalten.
Seine Auflösungstendenz kann stets nur als Auflösung von etwas
begriffen werden, sie besteht ebenso wenig an sich wie die
Wertaussagen, die sie überwindet. Insofern beide Sichtweisen einander
bedingen, als sie auch übereinander hinausgreifen und sich damit
aufzuheben vermögen, scheinen wir mittlerweile an einem ganz neuen
Punkt, nicht jedoch unbedingt an einem dialektisch dritten, synthetischen,
angelangt. Wir sind in das Zeitalter der Kommunikation eingetreten,
alle Inhalte sind als Konstrukte verhandelbar geworden, zugleich aber
ist auch damit nichts mehr beliebig an ihnen.
Wir sind nunmehr erst tatsächlich frei für unsere gesellschaftspolitischen
Utopien, als wir die Mythen entdeckt und unseren Ort bestimmt haben
und fortlaufend neu bestimmen. Wenn wir aber diese latente Spannung
zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, die wir nun beständig
zu unseren Gunsten und Zielen, welche sich selbst in dieser Bewegung
in beständigem Wandel begriffen finden, zu ändern suchen,
sollten wir nicht vergessen, daß es erst jener entgrenzende Reiz
des eingängigen Epilogs war, welcher uns diese Erkenntnis denn
ermöglichte. Wären wir verfahren wie üblich, hätten
wir alle Hoffnungen, Sehnsüchte und Enttäuschungen in einem
herkömmlichen Sinne mit uns weitergeschleppt, wir wären nirgendwo
angekommen, wo wir nicht schon gewesen sind.
Alle weiteren hier nun geäußerten Thesen sind vor genau diesem
Hintergrund zu begreifen: Sie sind Antworten auf die thematische Frage
in ihrem vollen konkreten Umfang, sie stehen damit aber immer auch radikal
zur Disposition. Sie verleugnen ihre primär wertende Haltung nicht,
doch diese gibt sich nicht absolut, sondern mag nur den Beginn des weiteren
Gesprächs anzeigen. Sie müssen somit nicht unerhört neu
sein. Aber sie verstehen sich in einem relativen, da in Teilen historisch
geborgten, als auch in einem definitiven, da persönlich geäußerten,
Sinne als innovativ.
Die Wurzel der Perspektivität
Soll primär der europäische Rahmen unsere Betrachtungsweise
bestimmen, so müssen wir uns zunächst auf seine Charakteristika,
seine Spezifika einlassen. Der Begriff einer Definition wäre hier
zu hoch gehängt, die Bestimmung der Identität von etwas hat
in einem gewissen Sinne erschöpfend zu sein und dies bleibt hier
- insbesondere unter dem genannten Aspekt einer Dynamisierung respektive
der Unabgeschlossenheit historischer Prozessualität - eine Leistung,
welche in einem bewältigbaren, da begrenzten, Rahmen nicht zu erbringen
ist. So wie die besonderen Problemfelder Europas im weiteren nur grob
skizziert und typisch aufgerissen sein mögen, gilt dies zunächst
auch für seine geographische, historische und kulturgeschichtliche
Dimension.
Der griechische Mythos stellt uns Europa bekannterweise namentlich als
jene zauberhaft schöne Tochter des Phönix und der Perimede
vor, deren jugendlichen Reizen der unsterbliche Zeus noch unsterblicher
erliegt. Er naht ihr verwandelt in der Gestalt eines Stiers. Entgegen
dem Rat ihrer hellsichtigeren Gespielinnen schwingt sich Europa voller
Neugier auf den Rücken des stattlichen und so erstaunlich zahmen
Tieres - um von ihm augenblicklich in die Lüfte gehoben und übers
Meer nach Kreta entführt zu werden. Dort gebiert sie, nachdem Zeus
sie unter einem Platanenbaum zum Beischlaf zwingt, drei Söhne:
Sarpedon, Rhadamanthys und Minos.
So wie sich Europa begrifflich nun aus diesem Mythos herleitet,
so mag in dieser gegebenen sprachlichen Form noch ein weiterer, älterer
Sinn enthalten sein, welcher ursprünglich dem semitischen Sprachgebrauch
entstammt. Vermutet wird hierzu die Wurzel ereb, deren Bedeutung
mit Sonnenuntergang, Abend oder schlicht dunkel
wiedergegeben werden kann. Es zeigt sich also in der ersten Bestimmung
des Namens für unseren Kontinent, daß dieser ihm eigentlich
und zunächst von einer äußeren Sichtweise zukommt. Die
Selbstbetrachtung findet also ganz ursprünglich ihren Sinn in der
Ansehung durch die Augen eines Anderen. Aus dieser Zweiheit erst geht
die Einheit des neueren Gebrauchs hervor: verknappt wäre damit
die Dualität von Orient und Okzident als die essentielle Wiege
dessen anzusehen, was Europa heute ist. Daß Europa
im Vergleich mit den lichtdurchfluteten Ländern des afrikanischen
und vorderasiatischen Raumes ein dunkles Land genannt werden kann, ist
durchaus einsichtig. Der Umstand, daß dies tragisch auch in metaphorischer
Rede für die jenem Sprachraum ebenfalls entstammenden Juden erst
wurde, ist reflexiv auf einer ganz anderen Ebene anzusiedeln. Doch auch
diese gehört heute unweigerlich mit zu diesem unserem nun perspektivisch
erschlossenen Rahmen.
Der geographische Raum Europas kann pauschal in seiner Ausdehnung von
Norden nach Süden als zwischen dem Nordkap und Gibraltar gelegen
bestimmt werden, des weiteren bilden im Osten die Gebirgsketten des
Ural sowie die Küste des Schwarzen Meeres seine Grenzen, im Westen
ist es der atlantische Ozean. Zusammenhängend mit Asien, als dessen
westlicher Ausläufer, oder auch rein quantitativ gesehen als dessen
Anhängsel es zu erachten ist, bildet es das sogenannte Eurasien,
die flächenreichste zusammenhängende Landmasse der Erde.
Sind diese geographischen Angaben wo schon nicht präzise, so doch
zumindest deskriptiv recht klar, so wird es mit der Bestimmung, welche
Völkerschaften und Nationalitäten denn als europäische
gelten mögen, bereits wesentlich komplizierter. Nicht zuletzt das
Selbstverständnis der jeweiligen Gruppen und Gruppierungen weist
sie je nach Gesichtspunkt in die Mitte, in die Peripherie oder auch
bewußt über den Rand Europas hinaus. Auch von ihrer Wahrnehmung
durch die anderen europäischen Völker hängt es ab, ob
man sie einer, wie auch immer zu fassenden, europäischen Gemeinschaftlichkeit
hinzurechnen mag, sie stillschweigend übergeht oder eben explizit
ausweist.
Doch hierzu später, zunächst der Reihe nach: Über die
Vermittlung des antiken Griechenland - und dessen weitreichend kultureller
Kanonisierung in Gestalt des expandierenden römischen Imperiums
- fanden die religiösen, mathematischen, künstlerischen, agrartechnischen
und juridischen Errungenschaften des Vorderen Orients, dessen in hohem
Grade arbeitsteilige Hochkulturen ein damals unerhörtes soziokulturelles
Niveau vorstellten, unmittelbaren Eingang in den Wissensbestand des
frühen Europas. Ob in Form der technischen Praxis oder der philosophischen
Reflexion, alle später für sein Selbstverständnis so
wesentlich gewordenen geistigen Marken, im Zentrum das Schriftwesen,
dankt Europa in irgendeiner Form auch der Anregung durch den Orient.
Die später vehement einsetzende Rationalisierung und Dynamisierung
des europäischen Geisteslebens wäre ohne diesen Anstoß
kaum denkbar gewesen. Doch verfolgen wir diese Reihen der Vermittlung
von Wissen, Ideen und Innovationen weiter, so erkennen wir, daß
es sich um ein beständiges und zwar in Phasen und Schüben
verlaufendes Wechselspiel zwischen Europa und seinen geographischen
Nachbarn handelte. Es war nicht eine einzelne und bestimmte Anregung
von außen, welche etwa in logischer Folge die innereuropäisch
schönsten Blüten trieb, es ist nicht etwa der mesopotamische
Kalender allein, oder die Erfindung des Pfluges, welche Erfindungen
als Substrat das weitere technologische und gesellschaftliche Wachstum
des jungen Kontinents formten. Die ästhetische Bildung des Mittelalters,
die Verfeinerung von literarischem und musikalischem Geschmack, entstammt
ebenso der fernen arabischen Welt, wie diese wiederum ihren
damals hohen wissenschaftlichen Stand aus der Grundlage einer lebendig
erhaltenen griechisch-römischen Kultur zog. Der sultanische Lebenswandel
Friedrich II. - seinen Zeitgenossen in mancherlei Hinsicht anstößig
- mag für diese Verhältnisse paradigmatisch gelten.
Auch jene vitale Neubelebung des mitteleuropäischen Geisteslebens
in Humanismus und Renaissance, die vielleicht folgenreichste geistige
Initialzündung für Jahrhunderte, kommt nur im Gefolge eines
west-östlichen Austauschs, wenngleich eher tragischer Natur, zustande.
1453 wird Konstantinopel durch das türkische Heer unter Mohammed
II. erobert. Diese neue geostrategische Situation zwingt
die seefahrenden Nationen Mitteleuropas, als auch die Fernhandel betreibenden
Stadtstaaten Italiens, sich neue Schiffahrtsrouten zu wählen, um
ihre merkantilen Interessen auch unter den gewandelten Machtverhältnissen
langfristig zu sichern. So kommt es einerseits zur, wenngleich unbeabsichtigten
so doch folgenreichen, Entdeckung Amerikas. Andererseits gelangen durch
die aus der erstürmten Metropole flüchtenden Gelehrten wesentliche
Manuskripte antiker Autoren erstmals wieder nach Europa und gewinnen
dort als Muster und ideelles Anregungspotential einen neuen, ungeahnten
Stellenwert für die weitere literarästhetische und philosophische
Entwicklung.
Nicht zuletzt die in jener Zeit sich intensivierende universitäre
Lehre kann in ihrer erstmals bewußt und offen forschenden Neuartigkeit
ohne die Wirkung dieser erweiterten materialen Basis kaum zureichend
begriffen sein. Die Wiederentdeckung dieses inneren Kontinents bleibt
in ihrer Bedeutung hinter der radikal veränderten äußeren
Topographie in nichts zurück. Beide Momente stehen auf ihre Weise
unter dem Vorzeichen einer erstmals umgreifenden Globalität.
Optionsräume: Weitere Antworten
Wie bereits angemerkt, ist der Versuch einer Bestimmung, welche Nationen
oder Volksgruppen, so diese Begriffe überhaupt zu etwas taugen
mögen, denn als europäische gelten können, sollen oder
mögen, mitnichten einfach zu unternehmen. Daß etwa Rußland
historisch unumstößlich einen integralen Teil Europas darstellt,
daran darf festgehalten werden. Doch erstreckt sich das gegenwärtige
Rußland auch bis tief in den asiatischen Raum hinein und dies
schon seit der Zeit der Stroganows. Europäische Kultur, europäisches
Denken läßt sich in Moskau wie in Wladiwostok, auf der Krim
wie in Kasachstan finden. Europäische Traditionen lassen sich hier
zwar vielleicht gar nicht mehr von einem nun amalgamierten euroasiatischen
Selbstverständnis der Menschen separieren, doch sind eben die historisch
dorthin verbrachten Ideen eine wesentliche Grundlage dessen, was wir
heute an lebendiger Kultur in jenen Gegenden sehen können und damit
ungeachtet der Topographie ebenfalls eine Spielart europäischen
Denkens. Daß andererseits bestimmte Volksgruppen oder religiöse
Gemeinschaften genau diese Vermengung der Traditionen als Verunreinigung
und Verdrängung eigener Identität erfahren haben bzw. sie
immer noch als solche begreifen und auch unter Zuhilfenahme kriegerischer
Mittel versuchen, hier eine Lösung herbeizuführen,
stimmt allerdings nachdenklich.
Für die Türkei gilt eine ähnlich gelagerte Problematik.
Hatte noch Atatürk den Platz seines Landes im Zentrum Europas gesehen,
so lassen sich heute vielerlei verschiedene Strömungen ausmachen.
Von einem als selbstverständlich empfundenen europäischen
Lebensstil vieler, insbesondere junger Menschen, bis hin zur krassen
Ablehnung als europäisch verstandener Werte vor allem durch islamistisch
geprägte Weltanschauungen, öffnet sich ein facetten- und variantenreiches
Spektrum verschiedenster Haltungen. Hier über ideelle Zugehörigkeiten
oder Distanzen zu urteilen, scheint schwer, wo nicht gar unmöglich.
Wenn nicht bereits diese spannungsgeladene Vielfalt wieder als zum eigentlichen
Kern einer modernen europäischen Mischkultur gehörend erachtet
werden sollte.
Die Diskrepanz zwischen dem Wunsch und der Wirklichkeit nach einem engeren
Zusammenschluß und auch der faktischen Zurückhaltung anderer,
bereits als zugehörig Erachteter, stellt allerdings eine nicht
geringe Herausforderung an die Struktur eines europäischen Selbstverständisses
dar. Drängen die osteuropäischen Staaten bewußt und
forciert auf die Aufnahme in die - bislang noch - maßgeblich von
den wohlhabenderen westlichen Staaten dominierten und errichteten Institutionen,
so versuchen diese, vor allem unter Berufung auf ihre eigene prekäre
finanzielle Situation, diese Anbindung, wo nicht zu hintertreiben, so
doch deutlich zu verzögern. Daß sich in der europäischen
Praxis solcherart eine Lücke auftut, zwischen dem, was als politischer
Wille bekundet bleibt und dem was de facto Umsetzung findet, ist ein
nicht zu unterschätzendes Problem für die Glaubwürdigkeit
eines sich behutsam gerade erst einenden Europas. Erstrebenswerter erscheint
den führenden Industrienationen Westeuropas allem Anschein nach
in vielen Fällen die bestehenden Anbindungen insbesondere nach
Nordamerika zu pflegen und zu intensivieren, da die internationalen
wirtschaftlichen Verflechtungen eine weit gewichtigere Rolle spielen,
als man dies gemeinhin zuzugestehen bereit ist.
Der immer wieder als gewachsen betonte Wertezusammenhang zwischen den
auch in einem militärischen Bündnis zusammengeschlossenen
transatlantischen, insbesondere den angloamerikanischen Partnern läßt
die Frage virulent werden, ob es denn überhaupt noch Sinn machen
kann, gegenwärtig von einer europäischen Frage im engeren
Zusammenhang zu sprechen.
Fassen wir also den Versuch einer Bestimmung des gegenwärtigen
europäischen Weges zusammen, so ergibt sich ein stellenweise inhomogenes
Bild, das recht deutlich ökonomische, ethnische, weltanschauliche
und geographische Divergenzen in sich begreift. Diese - je nach Gesichtspunkt
gewichtete - heterogene Stimmigkeit oder auch klare Dishomogenität
ist es, was als Grundlage jener bereits vorgestellten Dynamik des historischen
Prozesses bestimmt sein mag. Um sich dieser gleichwohl schwierig zu
fassenden, so doch konkret gewordenen und sich auf uns auswirkenden
kognitiven Vielstelligkeit begrifflich zu nähern und um mit ihrer
Relevanz auch die Vorstellung einer auf die gemeinsame Zukunft hin ausgerichteten
Handlungsanforderung zu verbinden, sei hier nun formal von den mit diesen
Gegebenheiten verbundenen Optionsräumen die Rede. Diese
Optionsräume als progressive terminologische Fassung des europäischen
Rahmens sind damit zugleich global wie sie regional sind, meinen die
Gegensätzlichkeit zwischen einer historischen Bedingtheit (vielleicht
sogar Retardiertheit) sowie der unabgeschlossenen Vision einer kommunikativ
erreichbaren Gemeinschaftlichkeit. Sie stellen bei allen modernen Diskurszusammenhängen
systematisch immer auch eine internationale Dimension des Geschehens
vor, wo ausdrücklich von europäischen Zusammenhängen
die Rede ist.
In diesen Relationen europäisch denken zu lernen, heißt dann
vor allem, sich beständig neue Orientierungen zu suchen, sich über
seine Ziele im Bereich der besonderen europäischen Perspektive
je schon im klaren zu sein, diese damit aber nicht als etwas letztgültiges
zu erachten, sondern sie schlicht und angemessen selbst als Teile, als
Chancen und Hindernisse des bestehenden Wirkungsspektrums zu denken.
Als die wichtigsten Optionsräume einer künftigen Entwicklung
seien hier nun drei Herausforderungen benannt, welche auf jeder dieser
Ebenen ihre Auswirkungen deutlich zeigen werden und untereinander in
enger Verflechtung und Wechselwirkung stehen.
Erstens der gegenwärtig in Europa erkennbare gesellschaftliche
Wandel hin zu einer Ära des digitalen Kapitalismus mit den damit
zusammenhängenden Fragen von Bildungshoheiten und Chancengleichheit
sowie nach dem Stellenwert, dem Anforderungsprofil und der Anerkennung
menschlicher Arbeit.
Zweitens die rasante Veränderung angewandter Technologien, insbesondere
der Medientechnologie und den hieraus resultierenden Risiken von Manipulation
und der mangelnden Beherrschbarkeit de facto unerkennbarer Risiken.
Drittens die Frage nach dem Umgang mit den genetischen Ressourcen des
Planeten, also die wachsende Gefährdung, den bestehenden dynamisch-labilen
Naturzustand, welcher sich gegenwärtig noch zwischen den Polen
künstlicher artübergreifender Manipulation und weltweiter
Verarmung des Erbguts durch die irreversible Zerstörung einmaliger
Habitate und endemischer Lebensformen zu halten vermag, defintiv aus
seinem systematischen Gleichgewicht zu stoßen.
Auf dem Weg in den digitalen Kapitalismus
Grenzenloser Enthusiasmus bestimmt den Tenor freier Wirtschaftslenker
und auch jenen der prophetisch agierenden Börsianer: "Auf
zur Sonne, dem Lichte entgegen" oder zumindest immer ähnlich
klingen die Parolen einer neuen Zeit. Es werde die Ära eines allgemeinen
Wohlstands anbrechen, Leistung lohne sich wieder, heißt die Prognose.
Die anrüchige Frage nach den Grenzen des Wachstums könne und
solle derzeit keiner mehr ernsthaft stellen, denn unter den völlig
gewandelten Voraussetzungen einer beständig fusionierenden, synergierenden
und dienstleistenden Hochtechnologiegesellschaft spielen schwindende
Rohstoffe eine Quantité négligeable, die damit einhergehenden
Probleme von Umweltzerstörung und antizipierter Warenverknappung
dürfen in einer Analyse der bestehenden Wirtschaftsverhältnisse
nicht mehr zu jenen absurden Schreckensszenarien hochstilisiert werden,
wie dies noch vor 20 Jahren leichtfertig möglich war.
Der einstige Arbeiter werde zum marktkapitalisierten Nutznießer
und unabhängig agierenden flexiblen Leistungsträger einer
immens verflochtenen und Mehrwert ausschüttenden dezentralisierten
Gesellschaft der Gesellschaften. Sozialer Wohlstand in seiner neuen
Dimension könne erst aus diesen infinitesimal freigesetzten Hedonismen
in einem aufrechten, da selbstgemachten Sinne geschaffen sein.
Neuartig ist das Prinzip ökonomischer Verabsolutierung in existierenden
als auch in historischen Gesellschaften allerdings keineswegs. Der Machtanspruch
nahezu aller Eliten stützte sich von jeher auf den Besitz knapper
Güter, die Kontrolle von Arbeitsleistungen oder vergleichbaren
Werten. Nicht erst seit Einführung der Geldwirtschaft ist die Konsequenz
der Besitzlosigkeit den am öffentlichen Leben teilnehmenden Menschen
- mitunter schmerzhaft - bewußt, entscheiden Vermögen und
soziale Position oftmals über Leben oder Untergang des Individuums.
An den absolutistischen Höfen Europas wurde diese akkumulierende
Hierarchisierung und die damit einhergehende Entwertung der nicht partizipierenden
menschlichen Existenzen ins Maßlose gesteigert. Die seit der Französischen
Revolution und mit Etablierung demokratischer Verfassungen deutlich
zurückgehende Massenverelendung gründet in einem neuartigen
Verständnis nicht nur der Rechte des Individuums, sondern auch
dem Wissen um die sozialen Folgen und positiven Konsequenzen einer allgemeinen
Bildung. Nicht zuletzt die Erhebung dieser Prinzipien zu einem geschichtsphilosophischen
Modell führte im 20. Jahrhundert zur politischen Spaltung des Europas.
Mit dem Ende jener weltanschaulichen Gegensätze, mit dem nahezu
vollständigen Sieg des Kapitalismus am Ende des Jahrhunderts, scheinen
nun jedoch die Karten auch innerhalb des - vormals immer umsichtig auf
interne Stabilität gerichteten - Blocks neu gemischt zu werden.
Bestand das System vorher nur in vitaler Konkurrenz zu seinem Komplementär,
so sind nun seine immanent dämpfenden Spielarten, wie die soziale
Marktwirtschaft, zu mehr oder weniger überflüssigen, ja hinderlichen
Rudimenten geworden. Ein totaler Triumph bedeutet solcherart auch Veränderung
und tektonischen Druck nach innen. Eine mit diesem Wandel verbundene
Problematik ist jene, einer neuen, sich nach pekuniären Möglichkeiten
richtende Bildungshoheit, welche einzig in der Lage ist, sich den enormen
technologischen Veränderungen der Gegenwart anzupassen und aus
dieser Kenntnis ihren Nutzen zu ziehen.
Nicht die warenschaffende Produktivkraft einer Industrie in heutigem
Sinne und schon gar nicht die nahrungserzeugende Landwirtschaft scheinen
in der näheren Zukunft bei der Gestaltung der gesellschaftlichen
Leistungsbilanz die entscheidende Rolle zu spielen, sondern es ist das
derzeit nur schwer zu erkennende und sich erst allmählich abzeichnende
Feld einer Hochtechnologiegesellschaft, welche weitestgehend automatisiert
die eigentlichen Produkte einer radikal gewandelten Wertschöpfungskette
hervorzubringen vermag. Das Wissen um die Herstellung von Computerchips
der neuesten Generation, die Etablierung von Software als Weltstandard
bedeutet bereits derzeit für einige Unternehmen eine ökonomische
Bilanz, welche die kleinerer Staaten um ein vielfaches übertrifft.
Die patentrechtliche Sicherung genetischer Codes, der Besitz globaler
Telekommunikationsnetze, die Fähigkeit, Märkte der Zukunft
überhaupt als solche rechtzeitig zu identifizieren und Anwendungstechnologien
für diese bereitzustellen, sind die de facto entscheidenden Momente
geworden, welche auch über die theoretische Möglichkeit der
Verteilung von finanziellen Mitteln innerhalb der Gesellschaft bestimmen.
Der freie Zugang respektive die Zugehörigkeit zu Institutionen,
die solches Wissen zu vermitteln vermögen, derzeit vor allem die
nordamerikanischen, japanischen und europäischen Universitäten
und Großunternehmen, ist damit ein Punkt von nicht nur
internationaler sondern gerade auch von innereuropäischer Brisanz.
Es ist vor diesen Hintergrund ernsthaft zu fragen, welchen Stellenwert
jedwede andersgeartete Arbeitsleistung noch erhalten mag, die nicht
mehr diesem inneren Zirkel einer progressiven Wissensvermehrung
und der Anwendung seiner spezifischen Kenntnisse zugehörig ist.
Die auf schlanke Produktion und Automatisierung gerichteten
Prozesse benötigen menschliche Arbeitskraft in noch weit geringerem
Maß, als dies die Rationalisierungsbestrebungen der jüngeren
Vergangenheit ahnen ließen.
Nicht zuletzt also die kollektive Entscheidung als politisch bindender
Maßstab über die Anerkennung der Arbeit und den Stellenwert
einzelner Arbeitsleistungen ist damit als eine zentrale Herausforderung
an die europäische Zukunft zu benennen. Welcher Wert
kommt etwa sozialen Leistungen zu, die in Pflege, Erziehung und Gesundheitswesen
erbracht werden? Ist eine gegebenenfalls aufwendigere naturnahe und
ethische Landwirtschaft als gesellschaftlicher Wert angemessen
zu veranschlagen? Hier wird die aktiv partizipierende Einbindung der
Bevölkerung in die Prozesse einer sich abzeichnenden und gerade
die Masse der Bevölkerung nicht bzw. nur als Konsumenten
benötigenden Informationsgesellschaft über den Bestand und
Wohlstand eines zukünftigen Europa entscheiden.
Datenströme. Oder: Ich weiß etwas, das du nicht weißt
Als einer jener technologischen Knotenpunkte scheinen sich die Verfahrensweisen
des konsequenten Erwerbs, der raschen Verbreitung und der Vermittlung
von Informationen herauszukristallisieren. Als prägnanter Terminus
mag hier die Wendung Medientechnologie greifen. Nicht zuletzt
der Zugang und die Kontrolle über diese Technologien und ihre Inhalte
bedeuten ein enormes Machtpotential. Auch in diesem besonderen Zusammenhang
besteht zwar eine historische Dimension, welche gerade etwa in militärischen
Konflikten oder in Anwendung von Propaganda den immer schon und zunehmend
erkannten Nutzen von Besitz und (selektiver) Weitergabe der Information
deutlich vor Augen führte.
Dennoch kann auch hier gegenwärtig von einem geradezu qualitativen
Umschlag in Umfang, Form und Bedeutung des genutzten Datenmaterials
gesprochen werden. So mag als vielleicht evidenteste Neuerung die Einführung
des Internets und von Intranetzen benannt sein, welche als beständige
Datenströme alle nur denkbaren Funktionen einer modernen Gesellschaft
tangieren. Ein Vergleich mit den in Organismen die vitalen Funktionen
erhaltenden Kreisläufen drängt sich geradezu auf. Das Wohl
und Wehe ganzer Industriezweige hängt von der permanenten Verfügbarkeit
relevanter Daten ab, der Kurseinbruch einzelner Ressourcen an den Weltbörsen
etwa kann, um Minuten verkannt, für ganze Konglomerate den wirtschaftlichen
Ruin bedeuten. Doch im Zusammenhang des weiteren thematischen Rahmens
bleibt wichtiger noch eine tiefgreifende Neuerung im Wandel der Funktion
dieser Technologie zu benennen. Sie ist allerdings einzigartig und geeignet,
die gesamte Spannweite ihrer heiklen Ambivalenz aufzuzeigen. Im Zusammenhang
mit dem in Form eines Epilogs formulierten Scheitern der aufgeklärten
Mythen als auch dem Hinweis auf die gesellschaftlich real gescheiterte
Utopie, verbleibt uns eigentlich nur noch die ganz unmittelbare Gegenwärtigkeit
als Ort einer Selbstbestimmung.
Die aktuale Gefährdung einer weitreichenden Entwertung menschlicher
Tätigkeit über ihren schlichtest verhandelbaren Wert hinaus,
als Marktwert, deutet prägnant auf die Chance und das Risiko dieser
neueren medialen Wirklichkeit. Als wichtigstes Instrumentarium einer
- positiv selbstreflexiv, negativ nur selbstreferentiell - organisierten
Gesellschaft wird sie zum maßstabgebenden Organon des Diskursprozesses,
welcher alle zu erhaltenden bzw. im Wandel zu konstituierenden Werte
zu formieren in der Lage ist. Damit kann dann auch dasjenige praktisch
begriffen werden, was bereits theoretisch als epochale Neuerung vorgestellt
wurde: die Verhandelbarkeit von Konstrukten, an welchen zugleich nichts
mehr beliebig ist. Die Stimmung der Bevölkerung, ihre Selbsteinschätzung
und Ziele, werden durch die medialen Systeme geprägt, gelenkt,
formuliert.
Dies zeigt aber auch einen geschichtlich sich einmalig vollziehenden
Wandel an: weg von unbezweifelt überkommenen und übergeordneten
Werten, hin zu kommunikativen Interaktionsvorgängen als relationalen
Marken allgemeiner Handlungsorientierung. Letztere sind nun als Inhalte,
als Gehalte, vielleicht sogar selbst wieder als Mythen und Utopien in
einem gewandelten Sinne aufzugreifen und fortzuschreiben, dies nun aber
in doppelter Form. Zunächst kann dieser Prozess unter dem Aspekt
seiner Bedrohlichkeit begriffen werden. Dank einer sogenannten Bildungshoheit
kann über Form und Präsentation der Inhalte zielgruppenorientiert
deren Signifikanz bestimmt werden. Einer globalen Manipulation stünden
damit ungeahnte Möglichkeiten zur Verfügung, Nachrichten beliebig
zu steuern, sie nach Interessenlage gänzlich zu unterschlagen,
sie umzudeuten. Eine oligarchisch kontrollierte Medienstruktur liegt
ohne weiteres im Bereich des Vorstellbaren, ist in Teilen bereits gegeben.
Offenheit in bislang unbekanntem Ausmaß hingegen, eine ungefilterte
Demokratisierung der Daten als unkontrollierbare Verbreitung subjektiver
Stellungnahme und betroffener Selbstbekundung, muß jedoch gleichfalls
als diesen Umständen einer sich beständig wandelnden Medienlandschaft
inhärente Chance gelten. Eine gezielte Verheimlichung von Informationen,
eine Hintertreibung unliebsamer Positionen kann nahezu unmöglich
gemacht werden, die Unüberschaubarkeit der Vermittlungsstrukturen
kann zumindest im Keim jede Oktroyierung abstreifen, ihren Versuch selbst
öffentlich machen und anprangern, vermag sie auf vielerlei Wegen
zu umgehen.
Als während des Kosovo-Krieges die gleichgeschalteten nationalen
Medien wie auch die internationalen Korrespondenten sich gehindert sahen,
über die Lage der Betroffenen im Krisengebiet zu berichten, gelang
es einzelnen Personen mittels Internet, die Schilderungen ihrer Lebensumstände
täglich in alle Welt zu übertragen. Der Umgang mit diesen
Informationen in Form ideologischer Nutzung und regelrechter Okkupation
durch alle beteiligten Interessengruppen zeigte jedoch umgehend wieder
den problematischen Verlauf einer partiell schon gegenwärtigen
medialen Wirklichkeitsbildung als Kampf um Wirksamkeit - bis hin zu
einem im Extrem sich leerlaufenden Betroffenheitskult, dessen Wurzeln
vielleicht in der Überforderung durch diesen permanent die Aufmerksamkeit
beanspruchenden Prozess kritischer Informationsverarbeitung durch das
Individuum liegen. Hier mag sich allerdings auch schon vorsichtig die
erste Grenze dieser Entwicklung andeuten.
Dolly in der Wüste
Allen diesen neueren Entwicklungen eignet aufgrund ihrer ungeheuren
Schnelligkeit das Moment einer weitgehenden Unüberschaubarkeit.
Die Abfolgen und Entwicklungsstränge einzelner Technologien und
ihrer Nutzanwendung sind selbst auf die Sicht nur weniger Jahre nicht
mehr prognostizierbar, allenfalls höchst vage Zukunftsmodelle können
überhaupt noch einen Anspruch auf Gültigkeit erheben. Ironisch
formuliert erschöpft sich bereits heute ihr Wert zumeist in einer
Deskription ihres ständigen Wandels.
Dieser Unschärfe menschlichen Begreifens steht eine hierdurch besonders
konturierte Konsequenz gegenüber: die ausschließlich anwendungsorientierte
Haltung gegenüber der Vielzahl an Technologien scheint nicht mehr
oder nur in sehr geringem Umfang noch in der Lage zu sein, auf die unmittelbaren
negativen Folgen einzelner Entwicklungen zu reagieren. Diese Folgen
können allerdings mittlerweile durch das hohe effektive Niveau
etwa chemischer und biologischer Substanzen von höchst dramatischer
Natur für das gesamte System der Biosphäre sein, sich darüber
hinaus auch noch gegenseitig fördern, hemmen oder sogar potenzieren.
Ein scheinbar banales Unternehmen, die Verwendung und Freisetzung eines
einzigen chemischen Stoffes in die Atmosphäre mag die katastrophalsten
Auswirkungen haben. Seine Fernwirkungen mögen sich aufgrund der
unglaublichen Komplexität der Zusammenhänge auch noch um Jahre
wenn nicht gar Jahrzehnte versetzt zeigen. Allerdings: eine Enthebung
von diesen mitzuverantwortenden Konsequenzen unseres Handelns wird es
deshalb nicht geben.
Als der am naheliegendsten zu erkennende Akkumulationspunkt solcher
Problematik mag sich in den nächsten Jahren wohl die Gentechnologie
erweisen. Es handelt sich hierbei nicht um eine Kritik hinsichtlich
deren prinzipieller Anwendung, wie sie sich etwa in medizinischen Therapien
nach ausgereiften Studien in vielen Bereiche bewährt hat, sondern
weit mehr um deren pauschale Anwendung in den verschiedensten Umweltbereichen.
Verstarben bislang weltweit eine Handvoll Allergiker an gentechnisch
veränderten Lebensmitteln, so sollten diese unbedingt als Seismographen
einer künftigen Entwicklung schicksalhaft ernstgenommen
werden. Daß nach allen Querelen um einen europäischen Standard
hinsichtlich allein nur der Auszeichnung gentechnisch veränderter
Lebensmittel einzig der kleinste gemeinsame Nenner eine Durchsetzung
fand, läßt in diesem Zusammenhang Schlimmes ahnen. Die in
der Praxis durch den Verbraucher unter realen Bedingungen nachgereichten
Unverträglichkeitsprüfungen werden denn wohl auch in einigen
Fällen gravierend sein. Die im Umfeld der Genetik auftauchende
Problematik ist darüber hinaus zugleich eine paradoxe: Schwinden
weltweit, auch in Europa, einmalige Habitate durch Landnahme und agrartechnische
Verwüstungen dahin, sterben endemische Lebensformen sowie auch
über Jahrhunderte gezüchtete hochadaptive und resistente Nutztierrassen
aus, wird zugleich versucht, die genetische Basis durch artübergreifende
Rekombinationen zu erweitern; dies ohne allerdings bislang auch nur
im Ansatz ein grundlegendes Verständnis für die im Erbgut
angelegten Wirkmechanismen entwickelt zu haben.
Gerade Europa, das nach anfänglichem Zögern nun auch in diesem
Bereich wissenschaftlich rasant aufzuholen beginnt, wird ein Zentrum
für diese Schlüsseltechnologie des nächsten Jahrtausends
sein. So sollte denn auch jetzt schon ein scharfes Bewußtsein
für die kommende Verantwortung hinsichtlich des Anwendungsrahmens
der neuen Technologie entwickelt werden. Zu welchen Ergebnissen die
Forschung führen, mag ist ungewiß, nicht hingegen die Gefährdung,
welche sie unweigerlich in ihrer forschen Pragmatik mit sich führt.
Nicht daß wir dereinst dastehen wie die geschorene Dolly, unschuldig
dreinschauend, ohne Vorstellung davon, was um uns herum geschieht und
dabei wie Goethes Zauberlehrling nur wissen, was wir angestoßen
haben, nicht wie mit den Folgen umzugehen ist. Und dabei sind bereits
heute wichtige genetische Ressourcen unwiderbringlich verloren. Daß
wir sie in unseren Experimenten wiederfinden werden, ist kaum wahrscheinlich.
Ein Schritt nach vorn, zwei zur Seite, dann erst wären wir wirklich
weiter.
Die Kreise schließen sich
Sich im Kreise zu drehen und nichts dabei zu finden, kann auf die Dauer
sehr ermüdend sein. Und bleibt fruchtlos obendrein. Sich hingegen
mit Schwung, in gewollter Bewegung aus der eigenen Mitte heraus um die
eigene Achse zu werfen und dabei nach allen Richtungen zu spähen,
sich einen Horizont zu schaffen suchen, ist etwas ganz anderes, davon
völlig geschiedenes. Es ist sogar das einzige, was wir wirklich
tun können. Dabei geraten wir - mitunter - in Anschluß an
andere, zunächst fremde Kreise, an andere Mittelpunkte, welche
eine gewandelte Perspektive jener Sachverhalte vorstellen, die auch
wir gewahren. Und wenn wir recht sehen, sind wir dank dieser fremden
Kräfte dann selbst ein Stück vorangekommen, haben unsere eigene
Mitte ein Stück verrückt, haben auch andere Sichtweisen in
uns aufgenommen - und - vielleicht auch andere Perspektiven angestoßen.
Wenn wir von hier aus wieder die Frage nach der Frage aufrollen, wird
unser Weg, unser Wurf, bei gleicher Bewegtheit doch wohl ein ganz anderer,
ein neuer sein. Es läßt sich über vieles sprechen und
zwar in vielen Sprachen, wovon jede etwas besonderes, etwas einzigartiges
zu leisten vermag. Sprechen wir über die aggressive Wirklichkeit
des Geldes, über die Chancen und Risiken der Medien und der Gentechnologie,
sind unsere Worte spröde, konkret. Sprechen wir über unser
eigenes Erkenntnisinteresse, unsere persönlichen Utopien und Hoffnungen,
geben wir uns vielleicht sogar etwas poetisch, werden ganz bildhaft
und manchmal sogar eigentümlich. Reden wir über unsere Zeit
und ihre historischen Propheten mögen wir ironisch, polemisch und
dennoch mitunter respektvoll klingen. Anders aber als diese Einstigen
haben wir heute einen unsicheren Stand, der um diese seine unsichere
Befindlichkeit recht genau weiß. Europas Weg zu beschreiben, ihn
gar zu ahnen, scheint schwierig.
Unser Blick ist polyskopisch und offen. Doch gerade diese Offenheit
zu erlernen, und zwar im Angesicht der benannten Herausforderungen,
könnte als die eigentliche und epochale Herausforderung an ein
künftiges europäisches Denken verstanden werden. Und wieder:
Offenheit meint damit nicht Beliebigkeit sondern Kommunikation, diese
allerdings in einem sehr weiten, dem umrissenen, immer auch konkret
wertenden und perspektivischen Rahmen. Mythen, Topoi und Utopien sind
erst in solchem Austausch zu gewinnen, zu vermitteln.
Was als besserer, was als schlechterer Weg und was schließlich
sogar als Hoffnung und letztes Ziel allen Bemühens verstanden werden
soll, liegt damit auch immer an unserer gewollten Bekundung und an unserer
ständigen Bereitschaft, uns auf diesen Prozess des Tauschens einzulassen.
Daß wir verstanden, ja überhaupt gehört werden, darauf
dürfen wir, wie bereits erwähnt, keinen selbstverständlichen
Anspruch erheben. Aber daß wir verstehen, uns auf die fremde Sprache,
auf den ganz eigenartigen Ausdruck der Anderen einzulassen, darauf haben
wir sehr wohl Einfluß. Vielleicht zeigt sich genau hierin aber
auch erst der Weg einer neuen Offenheit und eines gemeinsamen Erfolgs.
Und die Kreise, die eigenen und die einst fremden, sie schließen
sich dann doch.
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