Inhaltsverzeichnis
Vorwort
11 |
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I.
Einleitung 12 |
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II.
Textgrundlagen 14 |
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III.
Problematik der Textgestalt 17 |
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III.
1 Die Neuedition der Philosophischen Vorlesungen
für empfindsame Seelen durch
Christoph Weiß 1994 18 |
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III.
2 Zur Erstausgabe der Philosophischen........
Vorlesungen für empfindsame
Seelen 1780 20 |
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III.
3 Edition und Rezeption:
Ein unzeitgemäßer Diskurs?
23 |
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III.
4 Textgestalt und Textgehalt:
Zur Problematik der Textsortendifferenz
29 |
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III.
5 Zur Betrachtung der Textgestalt der
Philosophischen Vorlesungen
für
empfindsame Seelen 35 |
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IV.
Der Begriff der "Konkupiscenz" in den
Philosophischen Vorlesungen
für
empfindsame
Seelen von J.M.R. Lenz 41 |
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IV.
1 Der Begriff der Konkupiszenz' in historischem Abriß
41 |
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IV.
2 Philosophische Vorlesungen für empfindsame
Seelen - Eine Betrachtung
des Titels 51 |
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IV.
3 Zur Methode der Untersuchung 69 |
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IV.
4 Erstes Kapitel: Baum des Erkenntnisses
Gutes und Boesen
75 |
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V.
5 Zweites Kapitel: Supplement zur vorhergehenden
Abhandlung 96 |
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IV.
5.1 Exkurs: "Einen Blik der Gottheit ins schoene
Weltall thun". Zur poetologischen Fragwürdigkeit
des schöpferischen Subjekts zwischen
Determination und Freiheit, kreatürlicher
Antinomie und integrativer Metaphorik im Sturm
und Drang. 105 |
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IV.
6 Drittes Kapitel: Zweites Supplement 128 |
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IV.
7 Viertes Kapitel: Drittes und leztes Supplement 133 |
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IV.
8 Fünftes Kapitel: Anhang. Einige Zweifel ueber
die Erbsuende 136 |
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IV.
9 Sechstes Kapitel: Unverschaemte Sachen 150 |
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IV.
10 Der in den Philosophischen Vorlesungen für
empfindsame
Seelen entwickelte Genie-Begriff 169 |
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IV.
11 Eine Betrachtung des Verhältnisses zwischen den
Philosophischen
Vorlesungen für empfindsame
Seelen
und der Epoche des Sturm und Drang 178 |
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V.
Eine Interpretation des Gedichtes An den Geist 189 |
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V.
1 Editionslage und Datierung des Gedichtes 189 |
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V.
2 An den Geist - Das Gedicht 198 |
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V.
3 An den Geist - Formale Aspekte, Interpretation
des Titels 199 |
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V.
4 Interpretation der ersten Strophe 205 |
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V.
5 Interpretation der zweiten Strophe 217 |
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V.
6 Interpretation der dritten Strophe 226 |
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V.
7 Interpretation der vierten Strophe 232 |
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V.
8 Retrospektive Einbeziehung der aus den
philosophischen Vorlesungen
für empfindsame
Seelen entwickelten Grundkategorien'
248 |
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VI.
Resümee 253 |
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VII.
Beilage 255 |
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VIII.
Anmerkungen 257 |
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IX.
Verzeichnis der Abkürzungen 323 |
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X.
Literaturverzeichnis 326 |
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X.
1 Quellen der Lenz-Texte: 326 |
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X.
2 Sammelbände 329 |
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X.
3 Forschungsliteratur 331 |
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X.
4 Lexika und Nachschlagewerke 346 |
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Abstract:
Im Jahr 1994 wurden die in der British Library of London wiederentdeckten
und seit langem als verschollen geltenden Philosophischen Vorlesungen
für empfindsame Seelen des Sturm-und-Drang-Dichters Jakob Michael
Reinhold Lenz aus dem Jahre 1780 von Christoph Weiß im Werner
J. Röhrig Verlag als Faksimiledruck veröffentlicht. Die literarische
Öffentlichkeit reagierte mit großem Interesse; und tatsächlich
darf für das bislang unbekannte Schriftstück gelten, was Weiß
in seinem Nachwort zur Neuedition festhält: "Die Philosophischen
Vorlesungen für empfindsame Seelen von Jakob Michael Reinhold Lenz
zählten bis zum Erscheinen der vorliegenden Ausgabe zu den meistgesuchten
Werken der Literatur der Goethe-Zeit." Dieser besondere
Umstand prädestinierte das Werk für eine erstmals vorgenommene
ausführliche wissenschaftliche Untersuchung.
Ein die Philosophischen Vorlesungen gleichsam durchziehender roter
Faden' ist der heute ungebräuchlich gewordene Begriff der "Konkupiscenz"
(aus lat. concupiscentia' bzw. entstammend dem gr. Ausdruck epiqumia').
Er bedeutet soviel wie Begierde', Verlangen' und sinnlicher
Trieb'. Dieser Gedanke von einem die gesamte belebte (Gottes-) Natur
durchdringenden und konstituierenden Verlangen der Geschöpfe nach-
und zueinander und nach liebender Erkenntnis ihres Schöpfers wird
von Lenz zu einem theoretisch-theologischen Konstrukt erweitert, welches
im Rahmen der zeitgenössischen Theologie und Philosophie in vollem
Umfang als original' bezeichnet werden darf. Hochinteressant ist
etwa jene ganz konkrete Benennung der Konkupiszenz als "Geschlechtertrieb",
insbesondere wenn wir hier den gesellschaftlich restriktiven Hintergrund
der Epoche mitberücksichtigen. Die genaue Untersuchung dieses Terminus
- sowohl in seinem historischen Herkommen als auch die ganz spezifische
Verwendung in den Philosophischen Vorlesungen - und seine konstitutive
Funktion im Zusammenhang von Lenz' Gesamtwerk bildet das erste thematische
Hauptgewicht meiner Dissertation.
Den zweiten Schwerpunkt stellt die Betrachtung der Lyrik Lenz' dar,
insbesondere das Gedicht An den Geist. Lenz wurde bislang vor allem
als Dramatiker des Sturm und Drang wahrgenommen. Ich versuche, der gewandelten
rezeptionstheoretischen Wahrnehmung des Autors Lenz in der neueren Forschung
nun insofern Rechnung zu tragen, als der aus dem ersten Teil der Arbeit
gewonnene begriffliche Bestand (im Umfeld der Konkupiszenz und seiner
epistemischen Implikationen) auf das Gedicht angewendet werden soll,
so zwar, daß sich eine gewandelte, innovative Interpretationsmöglichkeit
für Lenz' Poetik erschließt, d.h. auch jenes neue, ganzheitliche'
Menschenbild Beachtung findet, welches wesentlich in den Philosophischen
Vorlesungen entworfen wird.
Die Dissertation steht damit einerseits in der Kontinuität der
deutlich wachsenden Lenz-Rezeption der letzten Jahre und setzt andererseits
genau dort an, wo noch ein deutlicher Forschungsbedarf besteht: Lenz
als bedeutsamen (philosophisch-theologischen) Theoretiker und Lyriker
des Sturm und Drang zu untersuchen.
Noch bis in die Mitte unseres Jahrhunderts war die Lenz-Rezeption maßgeblich
durch jenes Diktum Goethes geprägt, welches Lenz als verschroben,
als "whimsical" (so in Dichtung und Wahrheit, 11. Buch), also
als grillenhaft' abtat, als gescheiterten und auch letztlich mit
einer gewissen schicksalhaften Konsequenz im Wahnsinn endenden Dichter
darstellt. Diese Einschätzung ließ ihn sehr lange am Rande
des Kanons der Literaturwissenschaft stehen. Mittlerweile hat sich jedoch
dieses Unverhältnis', zu den Texten Lenz' im besonderen als
auch zur Rezeption des Sturm und Drang im allgemeinen, als einer doch
etwas ungezügelten, überemotionalen, ja überempfindelnden'
Epoche, zu ändern begonnen. Man ist hellhöriger geworden für
die auch problematischen, disharmonischen Themen, insbesondere der stark
sozialkritisch geprägten Dramen und erkennt sie als fruchtbare
Elemente einer bis auf den heutigen Tag nachwirkenden Rezeptionsästhetik.
Unter diesen besonderen Gesichtspunkten erarbeitet meine Dissertation
einen wissenschaftlichen Ansatz, welcher den Schriftsteller J.M.R. Lenz
gerade unter der Vielheit dieser Aspekte seines Schaffens übergreifend
zu erfassen sucht und hierbei sowohl das durchaus Problematische und
Diskontinuierliche seines literarischen Werkes dezidiert im Auge behält,
wie auch dessen bislang oft übersehenes innovatives Potential im
Bereich der Poetik angemessen würdigt.
Textauszug:
IV. 5. 1 Exkurs: "Einen Blik der Gottheit ins schoene Weltall
thun". Zur poetologischen Fragwürdigkeit des schöpferischen
Subjekts zwischen Determination und Freiheit, kreatürlicher Antinomie
und integrativer Metaphorik im Sturm und Drang.
Als eine jener zentralen Stellen der Philosophischen Vorlesungen, welche
als herausragend geeignet gelten dürfen, das hinter den einzelnen
literarischen Entwürfen und Ausarbeitungen stehende weitere poetologische
Konzept Lenz' in seinem besonderen Voraussetzungssinn zu erhellen, mag
die im vorangegangenen Kapitel verwandte Formulierung gelten, die den
produktiven Handlungsrahmen des Individuums wie folgt zu fassen sucht:
"Der Mensch sollte freilich einen Blik der Gottheit ins schoene
Weltall thun, und alles übereinstimmend empfinden: aber er sollte
auch frei, ein kleiner Schoepfer der Gottheit nachhandeln." (Philosophische
Vorlesungen, S. 15)
Zweierlei Bereiche bestehen hier gehaltlich ineinander. Zunächst
wird jene durch ihre ästhetische Affirmation des Kosmos charakterisierte
streng mimetische Haltung formuliert, die sich den Blickpunkt, die Position
Gottes selbst zu eigen machen möchte und damit in schöpferischem
Sinne eine gleichartige oder zumindest vergleichbare Perspektive auf
die natürliche Ganzheit und die in ihr einzeln entfalteten phänomenalen
Zusammenhänge erlangen mag. Die konjunktivisch oder auch imperativisch
zu begreifende Wendung "sollte" vermag insofern, sowohl eine
bereits anschaulich erfahrene Realität als auch eine noch nicht
eingelöste Differenz zum formulierten Standpunkt auszudrücken,
als innerhalb der konkupiszenten Dynamik ein statischer Aspekt nicht
denkbar ist, sondern sich dieser noch in einem vollendet-vollendenden'
Vollzug befindet.
Der göttliche "Blik" auf die Welt mag im singularen Erlebnis
als gelungen gedacht oder empfunden sein, pars pro toto wird das metaphysische
System hierdurch als bereits gewußte Einheit proklamiert. Doch
noch erscheint die transzendierende Bewegung des Subjekts nicht als
jene umgreifende Transzendenz selbst, noch vermag sie selbst nicht,
zum zeitlich und bewußtseinsmäßig überwundenen
Zustand zu werden, bleibt - wenngleich höchster - so doch nur perspektivisch
analoger Handlungsraum, dessen vorgebliche Identität zum göttlichen
Sehen sich damit in der schwer zu deutenden Gestalt eines doppelten
Grundes artikuliert. Der nach einem syntaktisch ungewöhnlichen
und auch graphisch deutlich abgesetzten Doppelpunkt folgende Abtönungspartikel
"aber" überführt den Satz dann in eine zunächst
konträr scheinende Aussage, bei der nun in abermals gewandelter
Weise fraglich werden muß, inwiefern sie den vorausgehenden Gehalt
fortzuführen in der Lage ist. Die Differenz zur vorangehenden syntaktisch-semantischen
Einheit wird explizit unter dem Aspekt der Freiheit' angeführt:
"als kleiner Schoepfer" orientiert sich das Individuum zwar
immer an der Maßgabe des großen Schöpfers', jedoch
durch seine hervorgehobene Benennung - eben selbst "Schoepfer"
zu sein - wird hiermit nun durch Lenz eine im vollen Wortsinne poetische
Befähigung des Individuums als Faktum proklamiert.
Die klare Trennung einerseits eines mimetischen Prinzips als Nachahmung
der Natur bzw. des Naturgegebenen und andererseits eines poietischen
Prinzips als eigenster und ursprünglicher Fähigkeit zur Gestaltung
eines qualitativ oder gar wesentlich Neuen mag als dialektisches Verhältnis
gedacht sein, so etwa als eine wechselseitig begriffene Konstitution
und noch unausgemachte Synthese der dialektischen Elemente. Näherliegend
und jeder weiteren Verbindung der Elemente vorangestellt, bleibt jedoch
ihre radikale Opposition anzunehmen. Als aktivisches und passivisches
Gegensatzpaar gedacht, bleibt keinerlei Kongruenz zwischen den einzelnen
formulierten Größen zulässig, wird in deren logischem
Widerspruch geradezu erst die Entscheidung über eine Kunstfähigkeit
des Menschen herbeigeführt.
Diese hier durch den Text angestoßene Betrachtung führt nun
direkt ins Zentrum einer poetologischen Theorie des Sturm und Drang,
bzw. wirft die Frage auf, in welchem Diskussionszusammenhang diese spezifische
dichtungstheoretische Äußerung Lenz' fruchtbar gemacht werden
kann, von welchen Topoi sie sich in dieser gewählten Form herdenkt
und inwieweit sie mit dem literarischen Selbstverständnis anderer
zeitgenössischer Autoren übereinkommen mag.
Der an dieser Stelle aufgerissene Zusammenhang von Mimesis und Poiesis
ist allerdings nicht originär im Rahmen der thematischen Epoche
angesiedelt, sondern denkt sich wesentlich, auch in seiner Konflikthaftigkeit,
aus den Kategorien einer antiken Dichtungslehre her - spätestens
seit Platos Politeia ist eine Reflexion über die Stellung des produktiven
Künstlers innerhalb einer (ihn selbst) hervorbringenden, umgebenden
und inspirierenden Natur' unerläßlich geworden. Allerdings
zeigt sich gerade im Sturm und Drang, besonders durch die vehemente
und wertende Auseinandersetzung vorzugsweise mit dem Gedankengut der
Antike, den Dramen Shakespeares und dem französischen Neoklassizismus
als negativer Folie , eine Neubelebung und eine Intensivierung der Diskussion
auf hohem theoretischen Niveau, die in ihrer Vielschichtigkeit durchaus
als bedeutender und qualitativer Sprung in Hinsicht auf den Versuch
einer umfassenden Neubestimmung einer eigenen, individuellen Schaffenskraft
im Rahmen eines neuzeitlichen Literaturverständnisses angesehen
werden kann.
Aufs engste mit der Fragestellung nach der poetischen Befähigung
als faktische poietische und mimetische Denkbarkeit ist die Problematik
einer möglichen individuellen Freiheit oder überindividuellen
Dependenz vor dem Hintergrund eines theologischen oder auch philosophisch-holistischen
Weltbildes verknüpft. Insofern als die maßgebliche frühaufklärerische
Philosophie in ihren Prämissen noch ganz wesentlich dem Determinismus
verpflichtet bleibt - verkürzt, aber sachgemäß zutreffend
auf ein Verständnis der Natur more geometrico' zu bringen
-, ergeben sich, bei aller augenfällig terminologischen Differenz,
dennoch hohe Affinitäten zur zeitgenössischen Theologie. Auch
die Literaturtheorie reflektiert diese Quellen eingehend, was bereits
an Lenz' Rezeption der Leibniz'schen Philosophie gezeigt wurde, und
so wird zumeist die nomothetische Einbindung des Subjekts als durchaus
gesicherter Umstand begriffen: oftmals allerdings bei gleichzeitiger
Berufung auf dessen freie Handlungsfähigkeit im Rahmen seiner künstlerischen
Produktivität.
Da es ihm Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist, in erschöpfender
Weise die produktionsästhetischen Grundannahmen und Widersprüche
der Epoche sowie deren motivische, stilistische und argumentative Abkünftigkeiten
als Problemhorizont zu wählen und auch umfassend synoptisch zu
formulieren, soll hier eine idiographisch vorgehende Darstellungsweise
gewählt werden, die an exemplarischen Autoren deren Umgang mit
der Problematik eines schöpferischen Subjekts im Rahmen ihres eigenen
weltanschaulichen - das meint in weiten Teilen auch ihres kosmologischen'
- Gesamtkonstrukts verdeutlicht. Die Auswahl der dargestellten Autoren
sei damit kanonisch auf Herder, Hamann, Goethe und Lenz beschränkt.
Als gemeinsamer Voraussetzungssinn eines literarischen Selbstverständnisses
der Stürmer und Dränger darf zunächst auch der in der
Aufklärung entwickelte und vor allem durch die wirkungsmächtigen
poetisch-normativen Entwürfe Bodmers und Breitingers sowie Gottscheds
verbreitete Mimesis-Begriff gelten, welcher sich als an der Maßgabe
der Natur selbst orientiert versteht:
Die Natur liefert dabei gleichzeitig den Fundus der für die künstlerische
Bearbeitung geeigneten Gegenstände und den Rahmen der Regeln, die
eine vollkommene Darstellung ermöglichen. Der Begriff der Natur'
gewinnt dadurch die Funktion eines zentralen Parameters poetischer Produktivität,
die weit über die Epoche der Aufklärung hinaus wirksam bleibt
und erst in den amimetischen und autonomen Sprachspielen der Moderne
aufgelöst wird.
Ob diese durch die Aufklärungspoetiken nun scheinbar so klare
normative Vorgabe und genuine Regelmäßigkeit damit tatsächlich
auch eine adäquat ableitbare poetische Regelgemäßheit
impliziere, darf jedoch vorab als fragwürdig gelten. Vielmehr birgt
die globale Unschärfe eines unkritisch verwandten Natur-Begriffs
die Gefahr eines topischen Mißverstehens, eines durch diesen Usus
provozierten chronifizierten und institutionalisierten Mißdeutungsrahmens
in sich. Peter Jaumann formuliert in Anlehnung an Robert Spaemanns Darstellung
die im 17. Jahrhundert zu unterscheidenden Verständniskonzepte
des Topos Natur' vielmehr als signifikant divergierende Konstrukte:
So erscheint Natur' zum einen als "Totalzusammenhang der
Erscheinungen", zum zweiten als "individuelle, durch Selbsterhaltungstrieb
primär bestimmte Vermögensausstattung und Bedürfnisstruktur
des Menschen" und schließlich als "hypothetischer, dieser
Geschichte vorausliegender Anfangszustand des Menschen". Der Begriff
Natur' fungiert so als universale Chiffre, die sowohl in einem
kosmologischen Kontext die Gesamtheit der materialen Welt, in anthropologischer
Hinsicht den Triebapparat des Individuums als auch in historisch-gesellschaftlichem
Sinn einen theoretisch formulierten Naturzustand' (wie bei dem
prominenten Beispiel Rousseau) umreißen kann. Auch hier prägt
der Begriff - ähnlich wie im poetologischen Mimesispostulat - sowohl
Gegenstand wie Methode des Erkenntniszugriffs.
Es zeigt sich an dieser Systematik, die auch deutlich die einzelnen
argumentativen Stationen der Philosophischen Vorlesungen - von der Einführung
einer individuell-allgemeinen "Konkupiscenz", über die
anthropologischen Reflexionen bezüglich einer gegebenen prä-,
infra- und postlapsarischen Situation als potentiellen Handlungsrahmens
und der transzendentalen Eschatologie als letzten, ästhetisch und
exegetisch gesicherten Telos - zu umfassen in der Lage ist, daß
hinter der Berufung auf einen durch Gott oder auch die umfassende Naturgesetzlichkeit
gesicherten Seinszusammenhang eine Diastase der vorfindlichen Natürlichkeit'
des Daseins zu gewahren bleibt. Diese Scheidung oder besser vielleicht
dieses Nichtübereinkommen der einzelnen Existenzmodi läßt
sich aber gerade nicht mittels einer Berufung auf ihre evidente'
Abkünftigkeit aus einem wie auch immer gearteten Allzusammenhang
schlichten.
Inwieweit eine solche Betrachtungsweise aus zeitgenössischer Perspektive
jedoch überhaupt problematisch gemacht werden kann, insbesondere
hinsichtlich eines weitestgehend noch nicht sprachkritischen Verständnisses
kommunikativer Vermittlung, sei es als Gotteswort oder als interpersonaler
Dialog, mag kritisch bedacht sein. Um so wichtiger erscheint es also,
die besondere Form einer sich wandelnden Bezugnahme zur kreativen Leistung
des Einzelnen, gegebenenfalls auch als rein emotionale oder pathetische
Bekundung in einem positiven Sinne, zu fokussieren.
So leitet Herder, erstaunlicherweise, gerade aus der konstitutionellen
Verfaßtheit des Menschen als seelischem Geschöpf dessen Freiheit
zu einem eigenständigen Denken und Handeln ab. Erst die innere
Anteilnahme am dichterischen Werk, die "Einbildungskraft"
und die Sinnlichkeit vermögen, die Rezeptivität auf jenes
Niveau zu erheben, das sie als kopoetischen Akt über alle tradierte
Regel und Normierung stellt. Während eine mechanizistische Verfahrensweise,
hier darf eine ausdrückliche Volte gegen die Dichtungstheorie der
Aufklärung im engeren Sinne vermutet werden, letztlich alle Kunst
ihren selbstgesetzten Zwecken und damit einem durch ihr Gesetz entleerten
Selbstzweck' unterwirft, findet sich hingegen vor allem in der
Dichtung alter Völker noch jenes unmittelbar anrührende Moment,
das zum Maßstab einer entgegenliegenden, wahren Auffassung des
Lyrischen wird:
Sie brechen immer in ihrem lyrischen Gange nur die Blumen ihrer Moral,
und kommen, da hier kein sichtbarer Gegenstand, keine aneinander hangende
Geschichte und Handlung der Einbildung und dem Gedächtnis vorschwebet,
jenem immer durch Anwendung, diesem durch Symmetrie, Refrain des Verses
und zehn andere Mittel zustatten. Hören sie einmal eine Probe der
Art über den allgemeinen Satz: Der Liebe läßt sich nicht
widerstehen! Wie würde ein neuer analytischer, dogmatischer Kopf
den Satz ausgeführt haben, und nun der alte Sänger? [
]
Konnte der Gedanke sinnlicher, mächtiger, stärker ausgeführt
werden? Und mit welchem Fluge! mit welchem Wurfe von Bildern! Lassen
sie den dummsten Menschen das Lied dreimal hören: er wird's können,
und mit Freude und Entzückung singen; sagen Sie ihm aber eben dieselbe
Sache auf einförmige, dogmatische Art, in hübsch abgezählten
Strophen, und seine Seele schläft.
Auch der strukturelle Zusammenhang eines Werkes als Kriterium poetischer
Verbindlichkeit, die "aneinander hangende Geschichte", braucht
wesentlich das fühlende, das beseelte Geschöpf, welches diese
Verbindung erfährt bzw. erdichtet. Es kann also eine durch den
Dichter als nur unbeteiligtes' Medium vermittelte Deskription
von natürlichen Motiven noch nicht als poetischer Akt gelten. Die
Herkunft jedweder Fabel, hier sei Herders Terminus der Geschichte'
seines historischen' Moments benommen und auf den erzählenden
Aspekt und seine ursprüngliche Bedeutung hin verengt, erfordert
vielmehr eine produktive als zugleich subjektive Perspektive auf das
beschriebene Geschehen hin. Ohne anteilnehmendes' Gefühl
könnte jedwede Kontur weder als ontologische Kohärenz noch
als - hier wieder fortlaufend gültige - geschichtliche Struktur
jenseits des nur individuellen Bezugs aus der Fülle welthafter
Faktizitäten sinnhaft extrahiert sein. Ein Geschehen-an-sich'
bleibt undenkbar oder doch zumindest unbezüglich und damit letztlich
irrelevant.
Der Poet ist damit nach Herder in seinem Vermögen unendlich mehr,
als Plato es diesem zugesteht. Im 10. Buch der Politeia liefert Plato
ein für die Bewertung der gesamten abendländischen Produktionsästhetik
relevantes Schema, das die schriftstellerische Tätigkeit wesentlich
als derivativen Abfall von einer ursprünglich göttlichen Wahrheit
ansieht, als ein a priori hinter alle übrige menschliche Praxis
zurückfallendes Verfahren. Das mimetische Vermögen des Schriftstellers
wird nicht einer wie auch immer zu fassenden poietischen Kategorie gegenübergestellt,
sondern kann seine Qualität nur insofern unter Beweis stellen,
als es die ihm weltlich vorgegebenen Dinge' - in einem Rückgriff
auf die sie summarisch vorstellenden höheren Begriffe - möglichst
konkret und getreu wiedergibt, sie nachformt, plastifiziert. Es wird
damit zu einem infiniten mimetischen Bemühen herabgestuft, dem
keinerlei positive oder gar eine eigenständige Leistung zugesprochen
werden kann, ja das selbst die ursprüngliche Aufgabe einer reinen
Wiedergabe immer wieder verfehlt. In noch weiterem Umfang als etwa für
die Malerei, die in einer antiklimaktischen Stufenfolge dem Handwerk
und als höchster Kategorie dem göttlichen und damit einzig
adäquaten Seienden nachgeordnet ist, gilt für das literarische
Werk: "Gar weit also von der Wahrheit ist die Nachbildnerei; und
deshalb, wie es scheint, macht sie auch alles, weil sie von jeglichem
nur ein Weniges trifft und das im Schattenspiel". Dichtung gilt
Plato also gerade nicht als die persönliche Leistung des Autors,
führt nicht zu einer positiven Transformation der umgebenden Wirklichkeit,
gibt sich nicht als perspektivische Durchdringung und schöpferische
Freilegung existierender Sachverhalte zu erkennen. Alles dichterische
Wissen wird letztlich zu einer Vorspiegelung' falscher (da relativer)
Tatsachen, insbesondere als es sich seiner defizitären Voraussetzungen
nicht bewußt wird und im Status seiner Befangenheit die Wahrheit
in doppeltem Sinne niemals einzuholen vermag.
Die durch Herder als echtes Vermögen und in der Summe der persönlichen
geistig-sinnlichen Einzigartigkeit verankerte poetische Befähigung
gibt sich jedoch immer auch als eine semi-mimetische' zu erkennen,
als sie auf tradierte Muster und konkrete literarische Anregungen zurückgreifen
muß. In diesem Umstand wird ihm auch die herausragende Bedeutung
einer Antikenrezeption für eine erst noch zu erschaffende Nationalliteratur
virulent. Erst in annehmender Durchdringung und zugleich reflektierter
Abkehr von vorgegebenen Mustern vermag sich eine poetische Identität
als Bewußtsein zu konstituieren, das nun ein eigenständiges
Neues' aus sich selbst heraus zu erschaffen in der Lage ist: "Man
zeige uns das wahre Ideal der Griechen in jeder ihrer Dichtarten zur
Nachbildung, und ihre individuelle, National- und Lokalschönheiten,
um uns von solchen Nachahmungen zu entwöhnen und uns zur Nachahmung
unsrer selbst aufzumuntern". Es ist somit weit mehr ein dichotomisches
Prinzip zwischen den Epochen angesetzt, das von einem verwandelten Traditionsbestand
als ausdrücklicher Gemeinsamkeit ausgeht, das damit Sphären'
eines kulturellen und in doppeltem Sinne initiierenden Voraussetzungssinns
aufgreift und sie in anderer Gestalt neu und eigenständig erschafft.
Mimesis und Poiesis können als opponierende Prinzipien in diese
Betrachtungsweise keinen Eingang finden und keinen Anspruch auf eine
je primäre oder ausschließliche Gültigkeit erheben -
wenngleich ihre geschiedene Gestalt hinter allen amalgamierenden Konzepten
als implizite Fragestellung deutlich erkennbar bleibt. Es mag damit
angemessen sein, das Herder'sche Verständnis der künstlerischen
Produktivität als im Kern synthetisches' zu charakterisieren,
das sein Profil aus einer selbstbewußten Abkünftigkeit reflektiert.
Der auch als Paradox auffaßbare Begriff der "Selbstnachahmung"
vermag diese Haltung ausgezeichnet zu repräsentieren. Sowohl die
reiche Überlieferung wie auch eine erst noch zukünftige literarisch-theoretische
Produktion in poetischer Eigenständigkeit werden durch ihn als
eine echte Novität propagiert.
Höchst problematisch jedoch wird diese synthetische Anschauung
Herders, wenn sie im Umfeld der menschlichen Freiheit als klare Entscheidung,
als nomothetisches Entweder-oder', als definitive Klärung
der Differenz zwischen theologische Dependenz versus autopoietischem
Freiraum in Erscheinung treten soll. Wie bereits dargelegt, ist es die
empfindende Seele, welche den Menschen als Existenz markant unterschieden
über die nur vorhandene Sache erhebt. Ohne dieses lebende Moment
wäre auch er nur "Puppe, Nachbild, Affe" . Wäre
der Mensch ein völlig von Gott selbst abhängendes Geschöpf,
so müßte unweigerlich auch auf ihn selbst jene Bestimmung
der Nachahmung Anwendung finden, die Herder so allen Produkten uneigentlicher
Handlung' nachsagt.
Wie allerdings die Seele zum einen als differentia specifica des Subjekts
dessen Handlungsraum als ursprüngliche Freiheit zu wahren vermag
und der Mensch andererseits zweckhaft' in teleologischen Abzielungen
besteht, die eben nicht auf ihn, sondern durch ihn als Mittel auf ein
Absolutes zielen, erscheint nicht logisch auflösbar. Herder versucht,
die bildnerische Befähigung des Dichters als Teil der göttlichen
Ordnung zu verstehen, so zwar, daß beide Aspekte Bestand haben
sollen im Zugleich von Freiheit und Notwendigkeit, von dichterischer
Inspiration und zufallsfreier Eingebundenheit. Gilt einerseits die "Seele"
gerade nicht als ein naturgesetzliches Ding, für jenes wird das
Bild einer an Fäden hängenden und nach dem Willen des Puppenspielers
manipulierten Marionette ohne eigene Bewegungsmöglichkeit evoziert,
so unterliegt sie doch im metaphysischen Bereich durchaus vergleichbaren
Regeln, die summarisch unter dem Begriff der "Vorhersehung"
begriffen werden können.
Inwieweit nun diese Verlagerung des Willens in die unendliche Intention
des Schöpfers eine völlige Auslagerung aus der begrenzten
Antizipation der Kreatur bedeutet, wird im Bild der "Maschine"
deutlich. So geben die "nordischen Menschen" Shakespeares
die exemplarischen und prägnantesten Vorstellungen eines wirklichen'
Allgeschehens ab, wie es aber de facto für jedes Individuum zu
gelten hat:
Lauter einzelne im Sturm der Zeiten wehende Blätter aus dem Buch
der Begebenheiten, der Vorsehung der Welt! - einzelne Gepräge der
Völker, Stände, Seelen! die alle die verschiedenartigsten
und abgetrenntest handelnden Maschinen, alle - was wir in der Hand des
Weltschöpfers sind - unwissende, blinde Werkzeuge zum Ganzen Eines
theatralischen Bildes, Einer Größe habenden Begebenheit,
die nur der Dichter überschauet. [
]. Die Auftritte der Natur
rücken vor und ab; würken in einander, so disparat sie scheinen;
bringen sich hervor, und zerstören sich, damit die Absicht des
Schöpfers, der alle im Plane der Trunkenheit und Unordnung gesellet
zu haben schien, erfüllet werde - dunkle kleine Symbole zum Sonnenriß
einer Theodizee Gottes.
Die Divergenzen der hier nur fragmentarisch und gezielt aposiopetisch
angerissenen und parataktisch gefügten Positionen stehen deutlich
über dem als Einheit benannten teleologischen Zusammenhang. Der
Dichter vermag diese angeblich noch zu überblicken, weshalb aber
die Gegenwärtigkeit sich in Bildern der "Trunkenheit und Unordnung"
präsentiert, und woher die Gewißheit einer Sonne',
die nur als Riß' und in "dunklen kleinen Symbole"
aufzunehmen ist, gewonnen sei, wird argumentativ nicht weiter ausgeführt.
Eine vorbehaltlose Bejahung allen Geschehens hebt jede unmittelbare
Wertung eines Partiellen auf, begreift' ausnahmslos jedes Geschehen
in sich.
Im Zusammenhang der Literatur müßte damit auch das uneigenständigste,
mimetischste Werk als vollkommen angesehen und affirmativ angenommen
werden; eine Besonderheit im Gang der Maschinerie Welt', hier
als ästhetischer Fehler gedacht, kann auf endlicher Ebene nicht
statthaben - es sei denn als präfigurierte Anlage, womit jedoch
die intendierte Differenz zwischen Sein und Sollen ebenfalls nichtig
wäre und damit nichts anderes als jene ursprüngliche gedankliche
Figur in abgeänderter Formulierung sich abermals einstellte.
Es wird deutlich, daß die Stärke der Herder'schen Systematik'
in einer Vermittlung der poetisch-mimetischen Gegensätze zwischen
historischer Abhängigkeit und eigenständiger Produktion liegt;
diese Leistung, die als zentrale Kategorien sowohl das Gefühl und
die Seele des Dichters als auch die Empfindungen des Rezipienten in
den Vordergrund rückt - und damit tatsächlich eine zumindest
in Anschlag gebrachte Eigenständigkeit der künstlerischen
Arbeit formuliert -, gerät dort unweigerlich in ihre Antinomie,
wo sie versucht, über die rein emphatische Bekundung hinaus argumentativ
und wieder regelgerecht einen beide Pole umfassenden Zusammenhang zu
konstruieren. Die Zusammenführung der Perspektiven "der Schöpfer
gibt uns Auge und Gesichtspunkt, so groß und tief zu sehen"
vermag zwar als eschatologische Dimension analog zu Lenz' "Blick
der Gottheit" formuliert werden, das Einzigartige einer aber immer
auch als fragmentarisch bekundeten Geschichtlichkeit und die hervortretende
Differenz einer in diesem Vollzugsrahmen ungeschlichteten Existenz und
ihrer zeitlichen Bedingtheit kann sie jedoch nicht gültig auszudrücken.
In der Frage nach Stellung und Ort des schöpferischen Menschen
verschreibt sich Johann Georg Hamann hingegen explizit einer ausschließlich
theologischen Deutung, die bei ihm in Hinsicht auf die Frage bezüglich
einer Poetizität von Texten die Züge einer allumfassenden
und quasi ontoliterarischen' Exegese trägt. Sein gewählter
Ausgangspunkt bleibt schwer durch eine von außen herangetragene
Analyse zu bestimmen, insofern als Hamann selbst sich nicht jener monodirektionalen
Linearität verpflichtet gibt, die als regelhaftes Wissen'
bei zeitgenössischen Autoren den Status unhinterschreitbarer Realität
innehat. Bereits die temporale Lokalisierung des Subjekts unterliegt
radikal anders gewichteten Deutungsmodalitäten, so daß Ursache',
Folge' und Intention' als Paradigmen individueller Produktivität
ihre Sinngrenzen bereits an der eigenen überkommenen Begrifflichkeit
finden und das problematische Verhältnis von Mimesis und Poiesis
als Horizont sich hier schon anfangs in zumindest zweifacher Hinsicht
eröffnet: Abhängig vom alltäglichen Gebrauchswert der
Worte in ihrer formalen und nur konventionellen Begrenztheit und damit
als obsolete Kategorie zum einen sowie als zugleich absolut vermittelter
begrifflicher Bestand zum anderen, der - sub specie aeternitatis - eine
terminologische Unschärfe nicht kennen kann und dem als expressiver'
Ausdruck eine geistig-emotionale Gleichgültigkeit gegenüber
auch nur irgendeinem Seienden fremd bleiben muß. Die vorhandene
Terminologie bezieht ihre Bedeutung also nicht aus dem Bemühen
eines rational operierenden Verstandes, sondern dieser selbst ist in
seiner sprachlich-forschenden Betätigung vielmehr als Ausdruck
der ihm verliehenen Tätigkeit zu begreifen, von welchem Punkt her
somit auch jedes formulierte Wort' seinen eigentlichen Wert empfängt:
"Was wäre die genauste, sorgfältigste Erkenntnis des
Gegenwärtigen, ohne eine göttliche Erneuerung des Vergangenen,
ohne eine Ahndung des Künftigen, wie Sokrates seinem Dämon
verdankte. Was für ein Labyrinth würde das Gegenwärtige
für den Geist der Beobachtung seyn, ohne den Geist der Weissagung
und seine Leitfäden der Vergangenheit und der Zukunft?"
Der "Geist" besteht hier als naturhafte Einheit der Aspekte
Endlichkeit und Unendlichkeit, bzw. umfaßt die einzeln benannten
Zeitmomente der "Gegenwärtigkeit", der "Vergangenheit"
und der "Zukunft"; ohne seine beschränkte Position wäre
ihm schlechterdings keine "Gegenwart". Die "Weissagung"
ist überzeitlich auf ihn gekommen durch das verkündete Wort.
Diese gilt Hamann damit selbst als eine in die Welt eingeschriebene
Schrift' Gottes. Ohne sie besäße der Mensch weiterhin keine
ihm Orientierung gebenden "Leitfäden", um aus diesem
"Labyrinth" des dann Unendlichen und nur Jetzigen herauszufinden.
Für die bestimmend vorgehende Interpretation bedeutet diese Vielstelligkeit
insofern ein Problem, als die sprachlichen Muster aller sich noch offen
darbietenden und zu untersuchenden Textualität damit a priori schon
in Frage gestellt werden. Zugleich aber ist sie durch den Autor jedoch
auch als jener ungeheure Umstand behauptet, daß man über
sie unmittelbar in den Bereich einer Kommunikation mit Gott selbst eintrete,
bzw. daß sie in ihren Aussagegehalt semantisch als bereits dort
angesiedelt zu erachten sind. Von daher wären nach Hamann denn
auch die Mittel einer Deutung' zu nehmen, und es wäre im
Prozeß der Auslegung logisch' an diesem Ganzen (und damit
an ihm als einer Selbstauslegung) teilzuhaben.
Die wesentliche das literarische Vermögen als Differenz tragende
Instanz, nämlich das sich seiner Vereinzelung bewußte Ich,
ist hier als epistemische Kategorie eliminiert. Individuelle Produktivität
müßte bei Hamann vielmehr als jene Möglichkeit bestimmt
werden, zugleich zu beobachten' und bereits in dieser eigenen
Stellungnahme sich in seinem Denken vorweggenommen zu finden. Dies jedoch
nicht in der leichthin alle Dissonanzen einer historischen Entwicklung
überblickenden Schau, wie es Herder für den Dichter prätendiert,
sondern nur seiner besonderen - nämlich konkreten - Art und dem
menschlichen Wesen als immer punktuell Seiendem nach. Inwieweit das
"Labyrinth" der Gegenwart damit auch den Ausdruck einer im
göttlichen Zweck' nicht unmittelbar aufzulösenden Leidensstruktur
seiner Existenz bewahrt, bleibt darüber hinaus zu bedenken.
Zum besseren Verständnis dieser - deskriptiv schwer zu fassenden
- überzeitlichen Auslegungsstruktur, die eine Singularität
des momentverhafteten Subjekts als erfahrene Wirklichkeit gerade nicht
verleugnen möchte, gibt Oswald Bayer die Bibelhermeneutik Hamanns
als Maßstab einer Annäherung an. In einer gezielten Lesung
der Bibel als (heiliger) Selbstbekundung Gottes wird deren Deutung zugleich
zur Deutung einer in ihrer Sprache geoffenbarten Welt und darin auch
der eigenen Bio-graphie':
Das Medium, innerhalb dessen Hamann seinen Lebenslauf einschließlich
der entscheidenden Wende nicht nur erzählt, in dem vielmehr diese
Geschichte geschah und überhaupt erst hat geschehen können,
ist die Sprache der Bibel. Es sind die in ihr erzählten Geschichten,
in die sich Gott selbst hineinbegeben hat. Er hat sie nicht nur selbst
gewirkt, sondern zugleich auch selbst erzählt; als "Poet"
ist Gott Schöpfer und Erzähler zugleich. In erhellendem etymologischem
Tiefsinn verbindet Hamann in seinem Gottestitel des "Poeten"
Momente, die sonst oft dissonantisch oder als einander verdrängend
wahrgenommen werden: Machtwort und Wort der Liebe, Freiheit und Leidenschaft,
Schöpfung als Werk und Schöpfung als Wort. Dasselbe intendiert
Hamann mit seiner starken Betonung von Gottes Vater- und Autorschaft,
die er, verbunden mit dem Gedanken der Kondeszendenz, konstitutiv und
konsequent sprachlich versteht: Gott ist Poet, der im genus humile redet.
Die poetische Handlung eines Autors wäre somit allgemein als eine
ganz persönliche Aufnahme und Weitergabe des biblischen Wortes
in seinem ausgezeichneten Bezug zu allen literarisch bzw. weltlich-gesellschaftlich
begegnenden Vorkommnissen zu charakterisieren. Dieser Aufgriff gibt
sich bei Hamann in einem das Gehörte forttragenden Stil und zwar
als methodisch bewußte Stellungnahme zu erkennen. Es handelt sich
dabei jedoch nicht um eine Rückbesinnung auf die durch das Selbst
konstituierte originäre literarische Leistung als Novum, welches
durch den Autor autopoietisch' in die Welt hineingebracht bzw.
aus seinem Vermögen selbst hervorgebracht wurde. So wird die Geschichte'
als historischer Prozeß durch die Geschichten' der Bibel
erzählt, geklärt und gedeutet, findet in diesen ihre höchste
und kritische Metaphorik. Das Produktionsgeschehen greift diese dann
in metametaphorischer' Gestalt auf, schreibt sich in Chance und
Begrenzung (dies allerdings nicht im Sinne Hamanns zu verstehen) von
jener transzendental inkommensurablen Grundlage motivisch immer schon
her.
Die immer nur bildlich begreifbare Freiheit des Individuums als überpersönliche
Gleichzeitigkeit von Aufgabe und Verfaßtheit sei in der schwierigen,
doch den gesamten Sachverhalt von Ontologie und Ästhetik bei Hamann
recht klar umreißenden Ackermetapher' dargelegt; sie mag
vielleicht auch einen Hinweis an die Hand geben, inwieweit das Individuum
überhaupt produktiver Künstler zu sein vermag:
Der Mensch ist also nicht nur ein lebendiger Acker sondern auch der
Sohn des Ackers, und nicht nur Acker und Saame (nach dem System der
Materialisten und Idealisten) sondern auch der König des Feldes,
guten Saamen und feindseliges Unkraut auf seinem Acker zu bauen; denn
was ist ein Acker ohne Saamen und ein Fürst ohne Land und Einkünfte?
Diese Drey in uns sind also Eins, nämlich Qe8 gewrgion: so wie
drey Larven an der Wand der natürliche Schatten eines einzigen
Körpers sind, der ein doppeltes Licht hinter sich hat - - -
Insofern das Subjekt handelt, steht es ihm vorgeblich frei, die künftigen
Folgen seiner Natur' frei zu initiieren. Das offene Feld'
seiner Handlungsmöglichkeiten ist jedoch vorgezeichnet durch das
beständig Dreifache' (wohl auch als ein Verweis auf die göttliche
Dreifaltigkeit zu verstehen) seines Wesens, das aus einem "doppelten
Licht" hervorgeht: Die possessiven als reflexive Aspekte bedürfen
seines Seins ("ist"), wie umgekehrt dessen schiere Vorhandenheit
eine Form, damit vielleicht auch eine individuelle Eschatologie ("König"),
erst aus dem persönlichen Bemühen heraus gewinnt. Die "Larve"
kann als solitäre Vorstellung des Gesamten auf dessen Unvollständigkeit
verweisen, solange es unter nur einer und damit beschränkten Ausprägung
begriffen wird. Die "Larven" als Repräsentation der Einheit
hingegen deuten schon insofern die - mögliche - Form als Transformation
an, als das Gegenwärtige sein Künftiges in besonderer Gestalt
bereits in sich trägt und selbst vorstellt.
Es wird an diesen Formulierungen deutlich, wie sehr Hamanns nahezu chiffrenhaft
anmutende Ausdrucksweise - wobei durch ihn eigentlich der umgekehrte
Erkenntnisweg eingeschlagen sein mag, also die weitestmögliche
Erhellung über den schwierigen Sachverhalt mittels einer poetisch-neuen
Sprache' angestrebt ist und ihr solcherart einer Charakterisierung als
Chiffrensatz geradezu entgegensteht - ihren radikal eigenen Voraussetzungen
verpflichtet bleibt. Resümierend soll das poetische Verständnis
Hamanns an dieser Stelle, in Anlehnung an Oswald Bayers Wendung, als
"kondeszendentes" festgestellt werden, womit die leitenden
Frageaspekte "Mimesis" und "Poiesis" als enthoben
und zugleich in absoluter Kategorie' wieder eingeführt gelten
müssen und in gewisser Weise damit auch sowohl einem üblichen
als auch dem vom Autor für sich in Anspruch genommenen Methodenbegriff
Rechnung getragen sein mag.
In Anbetracht eines durch Hamann immer wieder hervorgehobenen Verständnisses
des Wortes', immer wahrer Welttext', da göttliche Bekundung
zu sein, ist es letztlich nicht nur eine metaphorische Dimension, die
den sprachlichen Ausdruck leitet. Das Sprachsein' sollte sowohl
in seiner individuellen Bekundung als auch in der Wahl der konkreten
Motive wesentlich abkünftig verstanden werden. Es denkt sich in
seiner Vereinzelung immer von dieser transzendentalen Folie her und
gleichursprünglich auf diese hin. So sei auch die Bestimmung des
poetisch-mimetischen Dichtungsverständnisses bei Hamann an dieser
Stelle verknappt als "metametaphorische Kondeszendenz" formuliert.
Weisen Herder und Hamann bei aller terminologischen Unterschiedenheit
doch noch gewisse Affinitäten hinsichtlich der Struktur eines theologisch-poetischen
Selbstverständnisses auf, ist es gerade der von ihren Schriften
inspirierte junge Goethe, der in jener für die Dichtungstheorie
des Sturm und Drang so eminent wichtigen Rede Zum Shakespeares-Tag die
(un)ausgesprochenen Prämissen seiner Mentoren radikal negiert.
Es ist bei Goethe gerade nicht der Eindruck einer überwältigenden
Fülle ästhetischer Eindrücke, die sich in einem künstlerischen
Prozeß affirmativ ihren Ausdruck sucht, sondern es wird vielmehr
ein gegenteiliges Moment als Initial des poetischen Werks bekundet.
Nicht die phänomenale Geschlossenheitserfahrung als zu gestaltende
Vision' macht Anspruch auf Literarizität, sondern es ist
vielmehr ein in der Subjektivität empfundener Mangel, die Krisis
eigener Beschränkung, welche als Anspruch auftritt. Das Individuum
denkt und empfindet sich von seiner Endlichkeit her, die sich ihm als
Schmerz und als Erfüllungsgrenze darstellt und nicht als göttlich
geordneter Erfüllungshorizont offenbart:
Dieses Leben, meine Herren, ist für unsre Seele viel zu kurz,
Zeuge, daß jeder Mensch, der geringste wie der höchste, der
unfähigste wie der würdigste, eher alles müd' wird als
zu leben; und daß keiner sein Ziel erreicht, wornach er so sehnlich
ausging - denn wenn es einem auf seinem Gange auch noch so lang' glückt,
fällt er doch endlich, und oft im Angesicht des gehofften Zwecks,
in eine Grube, die ihm, Gott weiß wer, gegraben hat, und wird
für nichts gerechnet.
In den Blick genommen wird in dieser Aussage zunächst nichts als
die Existenz selbst. Die in ihr sich äußernden Impulse und
Prätentionen werden zu jener obersten Instanz, von der sich das
Weitere in seinem Wert' herzudenken hat, aus welcher Perspektive
sich die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des eigenen Werdens
als Sinn zu erkennen gibt. Der Erkenntnisprozeß nimmt hier seine
Richtung solcherart, daß aus dem menschlichen Bewußtsein
als gewußter Beschränktheit erst ein Entwurf auf die Totalität
ergeht, dieses stets jedoch in der Furcht befangen bleibt, durch "das
Schicksal [
] zur allgemeinen Nonexistenz zurückgeführt"
zu werden.
In geradezu akribischer und systematischer Formulierung umlagert Goethe
sukzessive den Augenblick als ausschließlichen Ort aller Sprachlichkeit,
erweist ihn als einzig adäquat einnehmbare Position, die überhaupt
eine poetische Relevanz in sich zu tragen vermag. Der Verweis auf eine
"Rückführung" in die wesensmäßige Annihilation
der Person wäre geradewegs als ausformulierte Opposition zu den
atemporal und zugleich soteriologisch orientierten Konzepten theologischer
Provenienz zu erachten. Der Mensch nimmt weder in Gott seinen Ursprung,
noch findet er in dessen Herrlichkeit seine Bestimmung, geschweige denn
- bezüglich eines (poetisch) produktiven Lebensprozesses - seine
syn-optische' Befriedung.
In ironischer Brechung werden die Topoi religiöser Vorstellungen
vorgeführt: Die "Seele" kommt mit dem "Leben"
der Größe' nach nicht überein, die Gleichheit
der Geschöpfe ist nur jene ihrer Vergeblichkeit, das "Schicksal"
durchkreuzt die Pläne der Menschen, statt sie in direkter oder
umlenkender Weise zu höherer Seinsweise und Vollkommenheit zu befördern,
"Gott weiß wer" hat dem Mitmenschen eine "Grube
[
] gegraben", in deren inversem Telos' der Einzelne
dann auch - und dies als einzige Gewißheit verstanden - sein Ende
findet. In dieser Skizzierung einer geradewegs antikosmologisch und
antipalingenetisch konzipierten Tragik, die letztlich immer nur eine
Verhinderung und Vernichtung des produktiven Subjekts bedeutet, gäbe
sich jedes mimetische Dichtungsverständnis als absurd zu erkennen,
könnte allenfalls in sarkastischer Weise die übergeordneten
Vorgänge als Verkürzung seiner Vergeblichkeit gut heißen.
Unterlaufen wird dieser radikal erfahrungskritische Horizont in seiner
pointierten Immanenz nun jedoch gerade nicht durch einen positiv-exogenen
Gegenentwurf, sondern, methodisch konsequent, vielmehr durch die Implikation
seines bekundeten Mangels als eines negativen Paradox. Der subjektive
Schmerz und das als Halbheit empfundene Dasein nehmen hier jene Funktion
des Wissens und Glaubens ein, die ein Äußeres, Höheres
nicht als emanative Gewißheit, sondern vielmehr als Frag-würdigkeit'
vorstellen: es somit aber immerhin in das Gesichtsfeld des thematischen
und literarischen virulenten Gesamten rücken. Von diesem äußeren'
Punkt her wird die emotionale Qualität, die Empörung (auch
der Form nach) als Exclamatio überhaupt erst verständlich.
Als verborgene Gewißheit in jener einzig und primär ungewissen
und zunächst nur vergeblichen Existenz wird damit die "Hoffnung"
zum ergänzenden, zum weiterführenden Thema. Erst durch sie
kann eine echte' poietische Produktivität entfaltet werden,
ihr festes' Anliegen wird es, bei aller bloßen Relativität
ein unabdingbares Erkenntnisinteresse zu bekunden, das dann über
sich selbst - auch gefühlsmäßig - hinauszugreifen versucht:
"Für nichts gerechnet! Ich! Der ich mir alles bin, da ich
alles nur durch mich kenne! So ruft jeder, der sich fühlt, und
macht große Schritte durch dieses Leben, eine Bereitung für
den unendlichen Weg drüben". Die Vielstelligkeit dieser Formulierung
ordnet nun die Pole des Endlichen und des Absoluten nicht in eine hierarchische
Beziehung ein oder versucht, aus einer Priorität oder einem Primat
des einen Gesichtspunkts den anderen als letztlich nur nachgeordnete,
subordinierte Repräsentation abzuleiten. Goethe wählt hier
eine in vollem Wortsinne ambivalente Konstellation, die gerade in ihrer
Einzigartigkeit als kritische und vor allem originelle Auseinandersetzung
mit der zeitgenössischen Dichtungstheorie verstanden werden kann.
Der "unendliche Weg" mag durch die Empfindung' bereitet
sein, beschritten wird er jedoch nur höchst indirekt, nämlich
in "diesem Leben". So gilt es einerseits diesen Weg allererst
zu sehen und zu wählen, andererseits aber auch seine besondere
- vorläufige - Form in allem Bestreben als begrenztes Bewußtsein
seiner selbst wachzuhalten. So bilden Wahrnehmung, Entwurf und Tat eine
Einheit, die ein tatsächliches poetisches Potential beinhaltet,
aber auch unablöslich die persönliche Reflexion als Rechenschaft
über deren natürlichen Grenzen verlangt: "Freilich jeder
nach seinem Maß".
Als die Mitte' dieser Bewegung literarisch vorstellend können
die Stücke Shakespeares gelten. In der Wertschätzung dieser
Theaterkonzeption - vor allem ihrer auf reale oder auch rein denkbare
Begebenheiten hin entworfenen Plastizität - sind Goethe und Herder
sich einig, nicht hingegen über die in sie zu legende Bedeutung
als eine dem Geschehen übergeordnete Dimension: "Shakespeares
Theater ist ein schöner Raritätenkasten, in dem die Geschichte
der Welt vor unsern Augen an dem unsichtbaren Faden der Zeit vorbeiwallt".
Das Hauptgewicht liegt damit auch bei der literarischen Darstellung
eines weltbühnenhaften Geschehens nicht auf jener gekonnten Verdeutlichung
einer "Vorhersehung", die sich in den einzelnen Repräsentationen
dem Dichter schon visionär zu erkennen gibt. Während die Herder'schen
Synthese' die einzelne dramatische Gestalt als Mittel ("Zweck")
erkennt, in der Handlung ihr fatum kristallisiert, bewältigt, betont
Goethe ungleich stärker die Komposition des Autors, der in einem
"Raritätenkasten" exemplarisch das Hervorstechende und
Typische der Geschichte versammelt und damit durchaus Aufschluß
über die Vergangenheit geben möchte und auch gibt, aber keineswegs
auf ein hinter den dargestellten Konstellationen zielendes metaphysisches
Pan-optikum' abhebt.
Die "Fäden der Geschichte" mögen das Geschehen leiten,
aber sie selbst bleiben "unsichtbar", und es wird über
das Prinzip der (schicksalhaften) menschlichen Natur als poetischen
Dreh- und Angelpunkt hinaus nichts über eine allumfassende Künftigkeit
ausgesagt. Die literarische Darstellung übersteigt solcherart in
ihrer Erkenntnisleistung sowohl die philosophische als auch die theologische
Systematik, als sie darstellend dasjenige leistet, was auf einem methodisch
anderen Voraussetzungen oder Glaubensinhalten verpflichteten Weg nicht
zu erreichen ist: Die vorab urteilsfreie Erweisung überpersönlicher
Zusammenhänge, die theoretisch nur und eben ausschließlich
als Antinomie darstellbar sind und damit keine weiterführende Funktion
für das Subjekt haben können. So lautet Goethes Schlußfolgerung
denn auch: "Seine Plane [Shakespeares] sind, nach dem gemeinen
Stil zu reden, keine Plane, aber seine Stücke drehen sich alle
um den geheimen Punkt (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt
hat), in dem das Eigentümliche unsres Ichs, die prätendierte
Freiheit unsres Wollens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt".
Die je einzeln figurierenden Momente, Determination und Willensfreiheit,
werden als denkbarer Horziont und als klarer, unvereinbarer Zusammenstoß
ausgesprochen. Ihre Dichotomie ist mithin als logischer Gegensatz formuliert,
eine denkbare, vielleicht auch gewünschte, erhoffte Weise ihrer
Übereinkunft, allzumal in der endlichen Handlung, als die sich
Dichtung auch begreifen muß, kann mittels ihrer allein nicht erklärt
werden - wenngleich eben sie es elementar sind, dank derer Literatur
sich konstituiert, trotz alldem Bestand' hat.
Goethe geht hier noch einen äußersten Schritt selbst hinter
die potentielle Aporie des in Frage stehenden Prozesses zurück,
wenn er den "geheimen Punkt" als bislang überhaupt noch
durch keinen "Philosoph gesehen" behauptet. Die völlige
Enthebung einer nur theoriegeleiteten Position als angemessenen Antwortrahmens
soll zunächst das ursprüngliche Problem der Dichtung wieder
freilegen. Die Frage an die Einheit des Konflikts wird jedweder deskriptiv-nomothetischen
Beantwortung - welche absolut gesetzt als lediglich verkennende
Erkenntnis' angeführt wurde - als zumindest gleichrangig beigegeben:
nicht aber um den schwierigen Komplex nun selbst zu lösen oder
in ein bestehendes Erklärungsmodell modifizierend einzumünden,
sondern um ihn aus einem neuartigen Blickwinkel heraus als zumindest
potentiell lösbar wieder einzuführen; dies jedoch nicht mehr
anhand bislang üblicher Terminologien und Systematiken.
Als Kritik einer philosophischen respektive theologischen Nomenklatur
ist diese besondere Wendung des poietisch/mimetischen Sachverhalts durch
den jungen Goethe in vollem Umfang zu respektieren. Daß die literarische
Lösbarkeit in der als shakespearisch angegebenen Form - "seine
Plane sind, nach dem gemeinen Stil zu reden, keine Plane" - folgenreich
für eine abgeleitete und literarisch konkretisierten Deutung der
Existenz sind, wird zum Beispiel an der Struktur des Werther wieder
deutlich. Hier nach dem metaphysisch Guten des Werkes als Teil eines
göttlichen Planes zu fragen, müßte als absurde Kategorie
Ablehnung finden, nicht hingegen eine Untersuchung der auch transzendierenden
Autorintention, die auf ethisch-ästhetischer und gesellschaftlich-sozialer
Ebene sich in Differenz zum bestehenden Verhältnis ausdrückt
und damit nun auch in einer nicht mehr nur immanenten Weise über
sich selbst hinausdeuten mag. Inwieweit diese Struktur selbst wieder
einer verordneten Gesetzmäßigkeit' folgt, wie es der
Schicksalsgedanke der Rede zum Shakespeares-Tag nahelegen könnte,
der mit dem "Willen" des Menschen in ein schwieriges Gefüge
eintritt, bliebe eigens zu untersuchen. Im Vordergrund des poetischen
Geschehens bleibt die Problematik bestehen:
Was Werther am Menschen, dem doch "gepriesenen Halbgott",
so fragwürdig erscheint, ist ein Mangel an "Kräften,
wo er sie am nöthigsten braucht", an Kräften, die Sehnsucht
zu erfüllen, "sich in der Fülle des Unendlichen zu verlieren";
denn in Freude und Leiden werde er schließlich "aufgehalten"
und "wieder zu dem stumpfen kalten Bewustseyn zurük gebracht".
Was es ist, das so wirkt, wird nicht gesagt; denkbar sind äußere
Umstände, innere Momente sowie ein generelles Problem. Sich ohne
Verlust an unendlichem Gefühl fassen zu können, ist dann überhaupt
undenkbar, wenn es nur um Selbstauflösung geht; und wo das Bewußtsein
nur als der leere Gegensatz zur Fülle des Gefühls empfunden
wird, kann nicht eingesehen werden, daß dort "die Gränze
deiner Begeisterung" ist, "wo die Nüchternheit dich verläßt."
Möglichkeit und Grenze treten in Goethes poetischer Konzeption
verschränkt auf. Der scheinbare Rückzug auf eine rein poietische
Haltung wirkt markant im zeitgenössischen Umfeld, nimmt jedoch
seine Richtung nur über den Umweg einer umfassenden' Fragwürdigkeit
auf ein wie auch immer zu verstehendes Äußeres, Höheres'
der Kunst, dem es immer verpflichtet bleibt. Das immanente Paradoxon
dichterischer Existenz, das seiner selbst zumindest in der "Sehnsucht",
deutlicher in der "Hoffnung" gewahr wird, ist nicht jenes
des behauptenden historisch-synoptischen oder auch ahistorisch-ontologischen
Überblicks, sondern eines der kritischen Reflexion, deren Leistung
sich als konkretes immanentes Wagnis und nicht unbedingt als eine gelingende
Gestaltung autorschaftlichen Daseins begreift. Die vorläufige Bestimmung
der goetheschen Position sei als die einer reflektierenden und sich
selbst fragwürdigen poietischen getroffen, dies jedoch nur insofern,
als jene um seine Abkünftigkeit zwar weiß, sie jedoch nicht
als metaphysischen Bestand zu kennen behauptet.
Insofern Herder, Hamann und Goethe als synchrone Interpretationsfolien
für Lenz' poetisches Selbstverständnis erhellend sein mögen,
so gilt es doch auch, die Wendung "einen Blik der Gottheit [
]
tun" in ihrem diachronen Herkommen als ein seit Scaliger und vor
allem Shaftesbury mit recht unterschiedlichen Intentionen in Anspruch
genommener Topos und "berühmtes Diktum" zu betrachten.
Die Charakterisierung des Dichters als eimes anderen Gottes' kann
eine große Fülle verschiedenster Bedeutungen beinhalten,
so daß es für die Interpretation unerläßlich bleibt,
das je gewählte Verhältnis von Motiv und Rezeption genauer
zu hinterfragen. Zunächst einmal gilt es, den Status einer in der
Formulierung als "alter deus" hervorgekehrten Göttlichkeit
des Dichters näher zu bestimmen.
Da gerade die Renaissance sich explizit als Rückwendung und zugleich
produktive Fortschreibung der Antike und der in ihr entwickelten philosophischen
und poetischen Konzepte verstand, liegt es nahe, die in Scaligers berühmt
gewordener Formulierung vorgetragene Gottesvorstellung im geistesgeschichtlichen
Rahmen einer weitgehend um Eigenständigkeit bemühten europäischen
Neuzeit und nicht maßgeblich durch eine scholastische oder dogmatisch-konfessionelle
deistische Perspektive bestimmt zu sehen. Es gilt dabei den weiten Bereich
des griechisch-römischen Mythos als möglichen motivischen
Rahmen mitzubedenken - wie es dann auch später bei Shaftesbury
explizit formuliert wird. Es zeichnet sich in ihr erstmals auch die
Stellung eines rehabilitierten Subjekts' als autonome, prometheische'
Größe vor dem Horizont einer weitgehend im Umbruch befindlichen
Weltanschauung ab.
Zunächst bestimmt Scaliger in seinen Poetices libri septem die
primäre Dimension menschlicher Sprache als in ihrer rein pragmatischen
Vermittlungsfunktion gelegene, die in fortschreitendem Maße ihrer
Ausbildung zu einer umfassenden Organisation der menschlichen Gemeinschaft
führen soll. Es eignet ihr hierbei jedoch kein ontologischer Status,
sondern sie stellt zunächst weiter nichts als einen "Fährmann
des Geistes" dar: "Est sane portitor animi quasi quidam sermo
noster, cuius communicatione civiles conventus indicuntur, artes coluntur,
sapientiae necessitudines homini cum hominibus intercedunt". Wenngleich
der kommunikative Geltungsbereich ausdrücklich weit gefaßt
ist, so wird doch deutlich, daß es ein Mangel in der Struktur
der menschlichen Gemeinschaft ist, welcher sich der Sprache geistig'
als eines Mittels bedient, um diesen sukzessive zu beheben. Nachdem
diese Bereiche als historische Ausweitung der Sprache, die in ihrer
ursprünglichen Funktionalität potentiell dennoch eine wesentliche
offene Qualität besitzt, eingeführt sind, wird auch das Wesen
der Dichtung, und zwar ihrer mimetischen Natur (als "imitatio")
nach, bestimmt: "Hanc autem poesim appellarunt propterea, quod
non solum redderet vocibus res ipsas quae essent, verum etiam quae non
essent quasi essent, et, quo modo esse vel possent vel deberent, repraesentaret.
Quamobrem tota in imitatione sita fuit". Das hier ausgesprochene
Verständnis mimetischer Dichtung negiert damit keineswegs das Moment
des Neuartigen in der Dichtung, sondern bezieht dessen Nicht-Faktizität
auf eine reale' Denkbarkeit als immanente Möglichkeit eines
regelgemäßen und zunächst nur eben nicht willkürlich
verstandenen Weltgeschehens. Die Konzeption einer poetischen Handlung,
die sich zwar am Gebot der "imitatio" orientiert, kann damit
dennoch als wesentlich offen bestimmt werden. Ihr "Zweck"
kann aber weder als in sich selbst bestehende, nämlich als reine
künstlerische Selbstreferentialität, noch in metaphysischer
Abhängigkeit als nur göttlich gewollte Gestalt begriffen werden,
sondern dient und unterliegt immer noch dem ersten Prinzip eines gesellschaftlich
orientierten Wohls, das sich der Sprache nur bedient: "Hic enim
finis est medius ad illum ultimum, qui est docendi cum delectatione".
Erst aus dieser Haltung eines Gewahrens gegenwärtiger Unvollkommenheit
hin zu einer künftigen Vollkommenheit, hin zu einer das gemeinschaftliche
Schicksal' als zukünftiges gestaltenden Sicht wird der ganze
Anspruch an Dichtung und Dichter deutlich:
Sola poesis haec omnia complexa est, tanto quam artes illae excellentius,
quod ceterae, ut dicebamus, res ipsas uti sunt repraesentant, veluti
aurium pictura quadam. At poeta et naturam alteram et fortunas plures
etiam ac demum sese istoc ipso perinde ac deum alterum efficit. Nam
quae omnium opifex condidit, eorum reliquae scientiae tamquam actores
sunt. Poetica vero, cum et speciosius quae sunt et quae non sunt eorum
speciem ponit, videtur sane res ipsas non ut aliae quasi historio narrare,
sed velut alter deus condere, unde cum eo commune nomen ipsi non a consensu
hominum, sed a naturae providentia inditium videatur. Quod nomen Graeci
sapientes ubi commodissime para\ to\ poieiªn effinxissent, miror
maiores nostros sibi tam iniquos fuisse, ut factoris vocem quae illam
exprimeret maluerint oleariorum cancellis circumscribere.
Die Bezeichnung des Dichters als "alter deus" sowie auch
seine als produktive Handlung bekundete Möglichkeit, eine "natura
altera" hervorzubringen, sind nicht ohne weiteres in ihrer Gewichtung
von Freiheit und Bedingtheit, respektive actio' und passio'
zu bestimmen. Der semantische Gehalt in "alter" kann dichotomisch
in Opposition und Negation wiedergegeben werden, es mag sowohl die göttliche
Nachfolge in der Inspiriertheit des Dichters durch (den obersten oder
ersten) Gott bzw. die göttlichen Musen gemeint sein, als auch einen
gegengöttlichen' Akt durch einen neuen Gott anklingen lassen,
der durch die formende Faktizität der bisherigen Welt hindurchgegangen
ist und ihre Perfektionierung als Gegenentwurf zu einer bislang und
nun (durch ihn) nicht länger defekten Wirklichkeit - endlich -
angeht. Auch die Formulierung "sed velut alter deus condere"
mag zwar die qualitative Besonderheit literarischer Produktivität
gegenüber etwa der Schauspielkunst betonten, aber welcher Grad
von Originalität der Wendung "condere" damit eignet,
ob sie nur als Rekombination ontologischer Versatzstücke zu einer
verbesserten' Konstruktion der neuen' Welt (Natur) führt
oder ob damit die schwer formulierbare Position absoluter autopoietischer
Erfindung implementiert und ausgedrückt sein soll, muß fraglich
bleiben.
A priori deutlicher auf ein mythologisches Moment bezogen bestimmt Shaftesbury
den Dichter als "[
] a second Maker: a just PROMETHEUS under
JOVE". Eine hier anklingende Unterscheidung zwischen Sein und Sollen,
die auch als ontologische Differenz zwischen Realität und Literarizität
begriffen werden kann und den freiheitlichen Akt des Dichtens in der
prometheischen Gestalt des Dichters in den Vordergrund rückt, scheint
das Subjekt von aller metaphysischen Abhängigkeit zu befreien,
es in den Status einer umfassenden Befähigung zur Konstruktivität
zu erheben, es aus der Fremdbestimmung des - implizit auch christlichen
- Gottes zu lösen.
Sehr deutlich wird diese Haltung im trotzig-heroischen Gestus des Gedichtes
Prometheus, wo nach anfänglicher Persiflierung der göttlichen
Taten schlicht Zeus' Unwert und somit die Obsoletheit des gesamten Systems'
Olymp formuliert wird:
Ich kenne nichts Ärmer's
Unter der Sonn' als euch Götter.
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.
Nicht zuletzt über die Einführung einer ethischen Kategorie,
welche auch in diesem Gedicht den Mangel der bestehenden Verhältnisse
hervorkehrt und die Unbezüglichkeit von Gott und Geschöpf
erweist, wird die Schöpfungstat des (Dichter-)Prometheus legitimiert;
sie mag zwar ebenfalls noch keine prästabilierte Vollkommenheit
bedeuten, aber in der Ambivalenz und emotionalen Fülle eines neugeformten
menschlichen Daseins macht sie die Kujonierung des Individuums durch
eine göttliche Willkür nun in ihrem Gegenwort öffentlich
und überwindet sie damit zugleich:
Hier sitz' ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, weinen,
Genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich.
Daß es sich aber hierbei gerade nicht um eine völlige Losgelöstheit
von äußeren Einflüssen oder psycho-physischen Gegebenheiten
handelt, sondern letztlich um einen langwierigen Prozeß der Selbstentdeckung,
der erst in seiner höchsten Form das Subjekt frei zur Schöpfung'
macht, verdeutlicht Shaftesbury mittels seiner besonderen Vorstellung
des Begriffs "Bildung". Über die gezielte Ausformung
der körperlichen Anlagen - der graziösen' körperlichen
"Bewegung" und der sich haltenden "Anmut" - durch
kundige Anleitung sowie einer nachhaltigen geistigen Formung des "Autors"
durch "Philosophen und Philosophie" wird das Individuum befähigt,
sich angemessen auszudrücken. Ohne diese besonderen, permanent
zu übenden Vorleistungen bliebe ihm sein eigentliches Sein als
Möglichkeit verschlossen: "The Horse alone can never make
the Horseman: nor Limbs the Wrestler or the Dancer. No more can a Genius
alone make a Poet; or good Parts a Writer, in any considerable kind".
Sind diese Übungen mangelhaft, werden sie nicht geradezu durch
das ganze Wesen des Lernenden reflektiert, sind sie lediglich Nachahmung
in einem niederen Sinne, "bare Imitation", rein mechanistische
Imitationen der Vorgabe ohne einen eigenständigen Vorstellungsgehalt,
"learnt casually and by rote". Gelingt jedoch die Aneignung
der - letztlich in ihrer analogen Funktion immer auf ein poetisches
Moment abzielenden - beispielhaften Muster, wird ein freies Erkennen
und Urteilen möglich, so zwar, daß nun eine Aufklärung
über das eigene Wesen als potentielles einsetzt: "And by this
means they [die mustergültigen Stücke, welche in der ars poetica
angeführt werden] not only taught Us to know Others; but, what
was principal and of highest virtue in 'em, they taught us to know Our-selves".
Ausgehend von diesen in ihrer Art explizit geschiedenen Formen der Nachahmung,
die eben nicht nur einen graduellen, sondern einen wesentlichen, qualitativen
Unterschied des individuellen Vermögens anzeigen, wird nun auch
die Dichtung als über verschiedene Ebenen der Nachahmung hinwegreichend
vorgestellt. Bereits in der Antike ließen sich erste Muster schriftstellerischer
Vollkommenheit aufzeigen: "Their Mimes or characteriz'd Discourses
were as much relish'd, as their most regular Poems; and were the Occasion
perhaps that so many of these latter were form'd in such Perfection.
For Poetry it-self was defind'd an Imitation chiefly of Men and Manners:
and was that in an exalted and noble degree, which in a low one we call
Mimickry".
Die Vollendung einer Darstellung war in der prägnant gestalteten
Wiedergabe von Wesen und Verhältnis der Personen und ihrer je eigentümlichen
Umstände gewonnen, mithin würde somit in gelungener'
poietischer Mimesis die umfassende Wahrheit entdeckt: "Tis they
that show themselves". Es verhält sich bei dieser Feststellung
Shaftesburys also nicht so, daß eine völlige Ablehnung des
nachahmenden Prinzips statthaben könnte; dennoch scheint ein primärer
Aspekt auf das Ausgezeichnete des Dichterischen gelegt, da dieser aus
einer dynamischen Einheit von Anlage und (Selbst)Ausbildung hervorgeht.
Als je äußere Enden des mimetischen und poietischen Wechselverhältnisses
in herkömmlicher Formulierung müßten gemäß
der angelegten Terminologie "Mimickry" und (gelungene) "Mime"
gelten, wobei das erstere nur leere Hülle und Form meint, "Mime"
hingegen lebendige und gestaltete Wahrnehmung' bedeutet, die bei
der Wiedergabe von Verhältnissen nichts weniger als die Realität
selbst vorzustellen beansprucht.
Diese Wiedergabe, welche in der Antike als formal gelungen und voll
entwickelt gelten darf, kann sich aber weiterhin nicht allein darin
erschöpfen, sich den an tradierten metrischen oder motivischen
Normen zu orientieren und in ihnen eine summarisch-normative und ahistorische
Perfektibilität zu gewahren, die nun für alle weiteren Epochen
einen hinreichenden oder sogar absoluten Maßstab bildet. Ihr eigentliches
Ziel muß es sein, der jeweiligen Zeit und ihren besonderen gesellschaftlichen
Umständen eine "Art von Spiegel" vorzuhalten, sie also
über den Umweg bzw. über das Medium der Sprachwerke über
sich selbst schonungslos aufzuklären.
Nur wenn diese Adaption gelingt, kann auch der künstlerische Ausdruck
als adäquat gewählt und angewandt gelten, eine unreflexe Übertragung
stilistischer Mittel hingegen wäre als unnützer Formalismus
abzulehnen. Es sind also auch wesentlich die soziale und die historische
Dimension, die Shaftesbury im wahren' Begriff des Poetischen aufgehoben
wissen möchte:
I MUST confess there is hardly any where to be found a more insipid
Race of Mortals, than those whom we Moderns are contented to call Poets,
for having attain'd the chiming Faculty of a Language, with an injudicious
random use a Wit and Fancy. But for the Man, who truly and in a just
sense deserves the Name of Poet, and who as a real Master, or Architect
in the kind, can describe both Men and Manners, and give to an Action
its just Body and Proportions; he will be found, if I mistake not, a
very different Creature. Such a Poet is indeed a second Maker: a just
PROMETHEUS, under JOVE. Like that Sovereign Artist or universal Plastick
Nature, he forms a Whole, coherent and proportion'd in it-self, with
due Subjection and Subordinacy of constituent Parts.
Die Charakterisierung wahrer Prometheus' hat diese Auszeichnung
verdient, insofern sie anhand richtiger Erkenntnisprinzipien die Weltkonstruktion
als bestimmte Konstitution der Verhältnisse ergreift und sie regelgerecht
und neuartig zugleich mit eigenen Mitteln in zeitgemäßer
Form wiedergibt. Daß diese "Harmonie" jedoch nicht gleichbedeutend
mit jenem theonomen als auch dem frühaufklärerisch-mathematischen
Determinationsverständnis einer allwissenden und allwirkenden Gottheit
sein kann, ergibt sich - wie auch bei Scaliger - aus dem Hinweis auf
die im weitesten Sinne immer kathartische Funktion von Literatur als
in ihrem epistemischen Bemühen zugleich immer sozial vorgestellte
Kategorie. "Knavery", "Dissonance" und "Disproportion"
sind allgegenwärtige Gegebenheiten der Gesellschaft. Insofern sie
zu überwinden bleiben und da sie eine zweifelsfrei negative Qualität
besitzen (und eben nicht nur als mittelbares Movens einer bereits vollkommenen
Welt zu begreifen sind), schlägt Shaftesbury einen Weg der poetischen
Unabgeschlossenheit ein, der den Dichter den Hoheitstitel (bzw. die
Eigenschaft) "Sovereign" beilegt.
Die allegorische Dimension, die sich als adaptierte Nachfolge einer
antiken Vorbildlichkeit begreift und welche die göttliche'
Nachfolge als gegenwartsbezogene Dichtungspraxis vorstellt, schlägt
sich im Sturm und Drang unmittelbar nieder. Das theoretische Moment
dieser Wendung hingegen, das zugleich die Vorstellung des Höchsten'
der Gottheit als auch ihre Autarkie' anklingen läßt,
sind nicht ohne weiteres ineinander oder im Verständnis einer unumschränkten
Befähigung des immer noch deutlich als begrenzt gekennzeichneten
Subjekts vollständig auflösbar.
Es zeigt sich bei dieser näheren Betrachtung literaturgeschichtlicher
Quellen, wie sehr die als gemeinschaftliches Fundament verstandene Motivik
doch immer auch vom einzelnen Autor in ganz eigentümlicher Weise
rezipiert und produktionsästhetisch different angewandt wird. Gibt
sich Lenz' poetologische Stellungnahme "Blick der Gottheit"
damit in ihrer konkreten Abkünftigkeit zwar als zentraler Topos
des Sturm und Drang zu erkennen, so wäre seine schlichte Einreihung
in die bislang angeführten Dichtungskonzepte jedoch nicht möglich.
Auf die besondere, hier weiterführende Bedeutung von Leibniz' Monadologie
und Theodizee weist Martin Rector hin. Er sieht eine deutliche Korrespondenz
zwischen der Perspektivität des poetischen Standpunktes bei Lenz
und der relativen Repräsentation des Kosmos durch die Monade bei
Leibniz gegeben. In einem Spannungsfeld zwischen dem "Recht der
Individuen auf unendliche Varietät und autonome Entfaltungsfreiheit"
und der "gottgewollten Harmonie der Schöpfung" wird die
Partizipation an der Weltschau Gottes - in der prinzipiellen Antizipation
des Möglichen als bereits Faktischem - zugleich Rechtfertigung
der Relativität eines minorativen Horizonts als auch zur Aufhebung
desselben: "In der Tat hatte Leibniz den Widerspruch zwischen der
Dissonanz der fensterlosen, also nicht-kommunizierenden Monaden einerseits
und ihrem harmonischen Zusammenklingen in der besteingerichteten aller
denkbaren Welten andererseits dadurch aufgehoben, daß er ihn zu
einer Frage des Gesichtspunkts (im französischen Original: point
de vue) erklärte".
Schließt sich Lenz nun tatsächlich jener absoluten Affirmation
Gottes an, die ihn damit selbst als Dichter, als Schöpfer seiner
Werke und zugleich nur als besonderen Blickwinkel dieser Welt (auch
auf sich) selbst darstellt, so wird das poietische Element - verstanden
als Neuerung - eliminiert. Auch als denkbare Gestaltung elementarer
Weltfragmente, wie es die historischen Formulierungen "alter deus"
und auch "second maker" nahelegen können, bleibt die
konkrete ontologische Verpflichtung auf das majorative Prinzip hin bindend.
Als "kleiner Schöpfer" ist jede Handlung immer und ausschließlich
nur eine Nachhandlung, sowohl die emotionale Seite der Bejahung (Ekstase)
als auch die problematische Reflexion einer (scheinbaren) schmerzhaften
Dissonanz können nicht beanspruchen, gedankliche Bewegung zu sein,
da ihr auch keine nur im Ansatz, und vielleicht auch nur absurd'
zu verstehende, partielle Selbständigkeit eignet. Hier wäre
jedes literarische Produkt reine derivative Mimesis, nichts als dasjenige,
was es nicht je selbst immer schon ist: "Bei Gott ist keine sukzessive
Begriffensammlung, so wie Zeit und Sukzession bei unsern erleuchtetern
Begriffen von ihm, gar nicht in ihm gedacht werden kann". Als Endpunkt
einer alles in dependenter Relativität bestimmenden Kausalität
wird damit auch die Frage nach dem Stellenwert des Poetischen überhaupt
obsolet; es ist Welt und steht wie auch die Reflexion auf diese fest.
Diese äußerste Haltung kann dann in ihrer endlichen Form
nur noch als unbewegte und zugleich unendliche Folge ausgedrückt
werden:
Die Selbstwiederholung des Absoluten geht im Kosmos in die Struktur
der "Nachahmung" über: dieses Prinzip erklärt schon
die ungetrübte Kreisform der ersten Sphärenbewegung als liebende
Assimilation an das rein in sich zurückkehrende Höchste, es
spiegelt sich im Kreislauf des Wassers der Meteorologie, es ist das
Grundgesetz aller generativen Prozesse, in denen das Zeugende immer
nur wieder seine eigene Wesensform produziert.
Die göttlich-menschliche Vermittlung, bislang gedacht als auch
immanent statthabende Offenbarung sowie die zwischenmenschliche Kommunikation
als in jedem Augenblick offenes Gespräch, welches solcherart einer
erst zu entdeckenden poetischen (Selbst)Vermittlung dienen mag und damit
zugleich einen außerliterarischen ethischen Zweck als Unerbrachten
verfolgt, gerät zur reinen Selbstaffektion fortlaufender und zugleich
abgeschlossener und immer bereits vollständiger Verhältnisse.
Sein und Sollen, Tatsache und differentes Bemühen können nicht
mehr auseinandergehalten werden: "Der Wille hat keine Seinsmacht;
er kann nur wollen, was schon ist, kann nur - wie der Gott auch - "in
Bewegung halten"" .
Insofern das Primat der Perspektivität auf jenem absolut gewählten
Standpunkt beharrt, kann die individuelle Produktivkraft keinen Anspruch
auf Selbständigkeit und Originalität erheben. Es ist in dieser
Selbstaussage nicht wie etwa das im Shakespeares-Tag durch Goethe invers
auf ein Umgreifendes formulierte Unsicherheitsmoment, das erst seine
Chance auf Ganzheit als erhoffte (bzw. symbolische), als in kontingentem
Wissen immer zurückbleibende Größe empfindend in sich
trägt und das sich damit in bloß welthafter Relativität
seine letzte Relation offenhält. Eine poietische Dimension vermag
sich allererst dort zu eröffnen, wo dieser Anspruch auf die erfahrene
Teilhaftigkeit fixierter Unendlichkeit aufgehoben scheint. Daß
Lenz diese Problematik in einigen Schriften - zumeist in paradoxer Formulierung
- zumindest erahnt oder erspürt, deutet auf einen deutlichen Bruch
mit jener prästabilierten Harmonie der metaphysischen Systematik
Leibniz'. In den Anmerkungen übers Theater gibt Lenz dann eine
Formulierung, welche mit jener der Philosophischen Vorlesungen fast
wörtlich übereinkommt. Eigentümlicherweise jedoch wendet
Lenz den Begriff der Dependenz gerade an dieser Stelle nicht nur gegen
die Fehlinterpretation antiker Autoren, sondern versucht, die poetische
Freiheit des Dichters vielmehr erst aus dem adäquaten Wissen um
Gott selbst abzuleiten:
[
] - es ist die Rede von Charakteren, die sich ihre Begebenheiten
erschaffen, die selbstständig und unveränderlich die ganze
große Maschine selbst drehen, ohne die Gottheiten in den Wolken
anders nötig zu haben, als wenn sie wollen zu Zuschauern; nicht
von Bildern, von Marionettenpuppen - von Menschen. Ha aber freilich
dazu gehört Gesichtspunkt, Blick der Gottheit in die Welt, den
die Alten nicht haben konnten, und wir zu unserer Schande nicht haben
wollen.
Auch wenn Lenz an dieser Stelle den Verweis auf die durch den "Menschen"
vorgenommene Drehung' der "Maschine" als dichtungskonzeptionelle
Überwindung einer künstlerischen Beliebigkeit ansieht, also
eine nichtkonsistente Konstruktion der Handlung bzw. ihrer Lösung
in der Weise eines deus ex machina' als mangelhaft ablehnt, so
wird es doch problematisch, daß er gerade hier die gewählte
Motivik als gesetzmäßige Überschreitung einer explizit
nicht genügend kohärenten Struktur und zugleich als Beweisgrund
gerade jener Eigentätigkeit und Freiheit von "Charakteren"
ausgibt. Auch wird nicht behauptet, daß der "Blick der Gottheit"
bereits eingenommen sei und nun aus diesem heraus eine letzte Positionierung
der dramatischen Fabel bedacht wird; der rhetorische Gestus "zu
unserer Schande" läßt das gegenwärtige Geschehen
- und vor allem seine Reflexion in einer theoretischen Schrift - damit
in eigentümlicher Weise offen.
Eine andere für Lenz wichtige Analogie poetischer Erkenntnis ist
das eine Himmelsleiter "Sprosse" für "Sprosse"
ersteigende Subjekt, wobei diese betonte Prozessualität den Dichter
als noch nicht an seinem höchsten Punkt' angekommenes Geschöpf
ausweist. Vielmehr steht das Individuum noch am Anfang seiner Laufbahn
zu Gott, es befindet sich bzw. ist in seiner konstituierten Gestalt
selbst "die erste Sprosse auf der Leiter der freihandelnden selbstständigen
Geschöpfe". Seine Handlung, sein Streben wird geleitet durch
die "Begierde". Wie in den Philosophischen Vorlesungen auch,
gilt das erste und ursprüngliche Begehren als jene Kraft, die den
Menschen durch all seine Möglichkeiten hindurch begleitet und vorantreibt.
Im Poetischen bricht sich diese "Begierde" dann als "Nachahmung"
Bahn. Der in seiner Unvollkommenheit gegebenen Beschränktheit entsprechend,
ist diese künstlerische Kreativität jedoch nicht immer nur
ein relatives Gelingen'; sie bleibt auch in vollem Umfang immer
relatives Mißlingen', da das Subjekt seinem Schöpfer
unendlich nachgeordnet bleibt.
Somit wäre gleichzeitig mit der Rechtfertigung des partiellen Produktionsstatus
als Positivität eigentlich dessen Scheitern zu konstatieren, welchen
defizitären Bestand Lenz auch selbst - bei sich stellenweise gegenläufig
gebenden Argumentationsbestrebungen - durchaus desavouierend formuliert:
"[
] da aber die Welt keine Brücken hat, und wir uns
schon mit den Dingen, die da sind, begnügen müssen, fühlen
wir wenigstens Zuwachs unsrer Existenz, Glückseligkeit ihm nachzuäffen,
seine Schöpfung ins Kleine zu schaffen". Noch schärfer
gerät diese ungeschlichtete Positionierung des Menschen als eines
beschränkten Geschöpfs in den Blick, wo Lenz die Frage nach
dessen potentieller Freiheit unumwunden stellt. Bei genauer Betrachtung
scheint es sich dabei jedoch nicht um eine echte offene Fragwürdigkeit
zu handeln, die von Argumenten getragen wird, sondern vielmehr um eine
Folge von parataktisch gereihten Thesen. Sie beanspruchen jeweils volle
Gültigkeit an sich, sind jedoch syntaktisch solcherart gefügt,
daß sie ein fortlaufendes Muster zu bilden scheinen, das sich
aber nicht als kohärente Gedankenkette entziffern läßt:
"Ist der Mensch frei? Das ist doch kein so ausgemachtes, keines
Beweises bedürftiges Axiom als der Verf. zu glauben scheint. Die
moralische Freiheit gestehen wir ihm gerne zu, die metaphysische gewiß
nicht". Wie eine moralische Freiheit respektive reflektierte Verantwortlichkeit
stattzuhaben vermag, ohne daß ein prinzipieller Handlungsfreiraum
besteht, bleibt fraglich, steht als unausgesprochenes Paradox im Raum.
Auch scheint alles Wissen um Gott und seine Ziele fast schon explizit
zurückgenommen zu sein, wenn die Frage (des Menschen an den Menschen)
ergeht, was der Mensch tatsächlich sei und überhaupt noch
zu erkennen vermag. Letztlich wird sogar sein Wissen um sich selbst,
sein Glauben', der in seiner Endlichkeit doch auch nur immer ein
Glauben, ein Meinen über sich selbst sein kann, fragwürdig:
Metaphysische Freiheit wäre, wenn ein endliches, oder geschaffenes
Wesen außer den ewigen und notwendigen Gesetzen denken und handeln
könnte, die der Schöpfer denkenden und handelnden Wesen vorgeschrieben.
Welch eine Psychologie und Pneumatologie müßten wir durchschauen
können, um jetzt zu behaupten, ja eine solche Freiheit ist möglich.
Kennen wir diese Gesetze? Und wenn wir die unsrigen ganz zu kennen glauben,
kennen wir die über uns stufenden Geister? [
] Und wie wenn
wir schon im Auge des Cherubs nichts mehr schienen als Tiere? Schon
in unseren eigenen Augen erscheinen wir oft als wenig besser.
Jede These scheint hier ihrer Antithese selbst wiederum die entscheidenden
Argumente an die Hand zu geben, eine konsekutiv durchgängige Haltung
wird nicht erkennbar. In letzter Konsequenz könnten verschiedene
Textstellen als Beleg für ein ganzes Spektrum möglicher Sinnzusammenhänge
herangezogen werden, wobei - und dies gilt es zu beachten - der epochale
Diskursrahmen durch Lenz jedoch nicht beliebig aufgelöst wird,
sondern die wesentlichen Strukturen rationalistischer, theologischer
und freiheitlich-subjektivistischer Positionen in thematisch sachgemäßem
Zusammenhang benannt sind, ohne im einzelnen allerdings übereinzukommen.
Die hier stärker an Leibniz' orientierten Textstellen wurden bewußt
angeführt, um die poetische Problematik durchgängig sowohl
vor einem theologischen als auch philosophisch-rationalistischen Hintergrund
zu erweisen. Möglich wäre auch eine vergleichbar gelagerte
Darstellung anhand etwa der Korrespondenz mit Lavater, dort jedoch müßte
das Schwergewicht im Rahmen einer empfindsamen Terminologie abgehandelt
werden, was die Darstellung allerdings einer wesentlichen Dimension
benehmen würde. Um jedoch dieses Moment mitzubedenken, sei eine
mögliche Gestalt dieses Diskurses in aller Kürze angedeutet.
In dem Gedicht [LENZ AN L. bei d. Lesung d. Physiognk.] gibt Lenz an,
daß ihm die "Gottes Aussicht" dank Lavaters Werk nun
eröffnet' sei:
Dank Lavater Freude und Dank
Meine Erwartungen übertroffen
Welch eine Gottes Aussicht offen!
Doch diese Offenheit' gibt sich in ihrer begeisterten Bekundung
immer noch als Abkehr von einer doch letztlich als ungenügend verspürten
Wirklichkeit zu erkennen und behält bei aller affektiven Kongruenz
stets noch ein immanentes und uneingelöstes Moment bei sich:
Tränen schwärmen in meinen Gesang
Denn ich sehe vom Ost zum Belt
Schon die neue selige Welt!
Einerseits hat der Mensch seine besondere Stellung Gott zu verdanken,
andererseits liegt es weitestgehend an diesem selbst, eine tätige
Praxis der Nächstenliebe zu entwickeln und auf diese Weise das
Gemeinwohl zu befördern, was letztlich auch ihm selbst zustatten
kommt:
In der Tat, m. H., wenn Gott uns nicht unsern Zustand gäbe - wie
elend würden wir sein? Wir mit unserer spannelangen Vernunft, wir
die wie Kinder anzusehen, welche das Feuer für was Angenehmes halten,
weil es rot aussieht, und schnell mit beiden Händen hineingreifen.
Sollen wir aber nichts zu Verbesserung unseres Zustandes tun, hör
ich Sie fragen. Sollen wir Gott versuchen und lauter Wunder von ihm
erwarten?
Der Konstatierung von höchster Gnade und dem fast uneinlösbar
erscheinenden Anspruch an das handelnde Subjekt, analog und damit gleichsam
transzendierend zu wirken, folgt eine antiklimaktische Skepsis, welche
systematisch hinter die eigenen Annahmen (in ihrer besonderen Form als
metaphysisch-moralische Bekundungen) zurückfällt und sie damit
sukzessive unterminiert:
O wie bezaubernd ist die Aussicht in eine solche Welt! Das ist das
Reich Gottes auf Erden um dessen Ankunft uns Christus im Vater Unser
beten lehrt. Aber - ach diese Welt, ist keine solche Welt. [
]
Überlaßt euren Zustand dem Gott der die Welt geschaffen,
strebt einzig und allein darnach besser zu werden und eure Nebenmenschen
um euch herum nicht allein besser, sondern auch glücklich zu machen!
Es ist schwer - es ist unmöglich - .
Die bei aller Differenz verbindende Größe bleibt bei Lenz
ein poetischer Enthusiasmus, der, als Positivität formuliert, in
seiner Offenheit die disparaten Phänomene des Leidens und der Glückseligkeit'
zu umfassen vermag, der aber auch in seinem markanten Mangel die antinomische
Verstrickung des Dichters unter dem Primat einer allgegenwärtigen
Determiniertheit geradezu exemplarisch vorführt, sie als absurde
Kategorie einer sich nur selbsttätig wähnenden Handlungsbefähigung
völlig absorbiert. Inwieweit sich durch dieses Moment einer immer
wieder betont subjektiven Bekundung der poietische Anspruch als Reflexionsstruktur
über ein deutliches epistemisches Paradox zu erhalten vermag, scheint
nicht leicht zu beantworten. Als beständig sich mühende Unabgeschlossenheit
der künstlerischen Existenz im Angesicht einer fraglos defizitären
Welt, als geleugnetes Scheitern vor den Versprechen auf ein in jedem
Moment vorgeblich schon vollzogenes Gelingen der göttlich versicherten
Ganzheit Mensch, tut sich damit eine dritte Perspektive auf, die sich
der sprachlichen Mittel nicht bedienen zu scheint, um nur zu deuten
- sondern um das im Ausgesprochenen unzulänglich Formulierte auch
bewußt gebrochen hervorzukehren.
Daß sich eine solcherart verstandene Werkkonzeption jedoch - wobei
hier die Vorstellung einer Konstruktion im herkömmlichen Sinne
zu vermeiden ist - im Zusammenhang der dichtungstheoretischen Entwürfe
Herders, Hamanns und Goethes als eine eigenständige Leistung darstellt,
bleibt kritisch anzuerkennen. Ihre besondere Potentialität liegt
allerdings nicht etwa in der Einführung oder Neuanwendung sprachlicher
Mittel und erweist sich auch nicht als sachgerechte und vollentwickelte
Argumentationsform, die den epochalen Diskurs in einem neuen Licht erscheinen
ließe, sondern vielmehr in der überraschenden Erkenntnis,
daß Poetik sich hier auch in scheinbarem Fehlgebrauch, Intentionsbrechung,
Unvollständigkeit und in Paradoxa ihre gewandelte Form erschafft:
als zwischen Immanenz und Transzendenz gespannter und doch immer enthusiastischer
Entwurf, der seinen eigentlichen Wert gerade auch durch die Inkaufnahme
bzw. sogar die Provokation epistemischer Antinomien erhält, der
sich hierin vielleicht sogar eine Form negativer dichterischer Freiheit
verschafft, welche objektiv aber als (wenngleich besonderer) Mangel
zu charakterisieren bleibt.
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