Das Flüstern des Himmels
Heidelberg 2000
Johannes Schnurr
To see the Summer Sky:
Is Poetry, though never in a Book it lie -
True Poems flee -
Emiliy Dickinson
6.30a.m.
Wohl aufgrund einer größeren Erschütterung musste Tonio
zu sich gekommen sein. Der bejahrte Überlandbus war mit brachialer
Achtlosigkeit durch eines der zahllosen Schlaglöcher gerast, ein
kurzer dumpfer Schlag ließ die Karosserie für den Bruchteil
einer Sekunde erzittern. Die sich gerade unter seinem Sitz befindliche
Hinterachse stöhnte erst kurz nach diesem Ereignis auf, und wie
es ihm ebenfalls schien, im Gleichklang mit seinem schmerzhaft versteiften
Rücken. Er hatte sich unbewußt immer mehr und immer tiefer
in eine völlig verdrehte, unnatürliche Schlafposition hineingekauert.
Sein Mund war ausgetrocknet. Er war durstig, sein Hals begann sich bereits
leicht zu entzünden. Er hatte in dieser abstoßend gedrängten
Enge ziemlich beschissen geschlafen. Auch seine Augen brannten, als
er sie öffnete. Wohl durch den beständigen Fahrtwind, die
Fenster ließen nicht mehr gänzlich verschließen.
Leiber. Man konnte sie riechen, doch zu sehen war fast nichts. Vage
zu erkennen allerhöchstens die Umrisse der Passagiere vor und hinter
ihm. Beständig schwirrende Stimmen. Aber immerhin mussten es doch
zwei oder drei Stunden gewesen sein, die er weg gewesen war. Das Gefühl
einen solchen durch und durch unruhigen Halbschlaf führen zu müssen,
war ihm abgrundtief verhasst. Gedankenfetzen und kurze Traumsequenzen
vermischten sich, verzerrten einander. Jede Wahrnehmung erhielt dadurch
einen phantastischen, eine übersteigerten Anstrich, die Zustände
überlagerten und verwirrten sich im Laufe der Zeit immer mehr.
Was allein blieb, war ein Gefühl der Hilflosigkeit. Und der endlosen
Dauer.
Tonios Blick fiel aus dem mit schwarzer Lackfarbe bemalten vergitterten
Fenster. Eine dämmernde Landschaft, doch auch hier waren klarere
Konturen nicht auszumachen. Außer vielleicht den Kronen der vorbeijagenden
Bäume. Es existierte gar keine Ferne, es gab überhaupt noch
keinen Raum in dieser dunklen Welt. Nur die drückende Nähe
dieser Anderen, Fremden um ihn herum. Wenigstens die Luft war klar und
kalt. Sie traf sein Gesicht in den Wellen. Sie fühlte sich hart
an, ein wenig wie flüssiges feuchtes Metall. Doch sie roch noch
nicht. Roch noch nicht nach Morgen, nicht nach Leben.
Die Straße führte ohne Unterbrechung abwärts. Sie folgte
in ihren Windungen dabei genau dem schmalen Grat des Bergrückens.
Bald musste der Bus den tiefsten Punkt der Umgebung erreicht haben.
Ewig konnte sich diese Fahrt nicht mehr hinziehen, dazu dauerte sie
Tonios Empfinden nach nun einfach schon zu lange. Er verspürte
das dringende Bedürfnis endlich anzukommen. Hier irgendwo musste
das Meer liegen. Die Küste. Und nur dort wollte er jetzt noch hin.
Der Bus begann nun ohne ersichtlichen Grund langsamer zu werden. Der
Fahrer warf nun auch noch rücksichtslos einen niedereren Gang ein.
Unter dem Heulen des Motors kam das gesamte Gefährt beinahe ruckartig
und knirschend zum Stehen. Dann machte es einen Sprung. Es kroch nur
noch unregelmäßig und ruckweise vor sich hin. Jetzt konnte
Tonio auch den Diesel riechen. Er schloss die Augen und fühlte
plötzlich wieder Müdigkeit in sich aufsteigen. Er atmete tief
und ruhig.
Sie hatten wieder einmal einen der unzähligen Grenzposten erreicht.
Jeder Bundesstaat hatte hier die so lästige wie lächerliche
Angewohnheit, sein Territorium übertrieben deutlich zu sichern.
Es handelte sich dabei ohne jeden Zweifel nur um systematisierte bürokratische
Wahnvorstellungen. Um regionale Eitelkeiten, die auf irgendwelchen vermeintlich
unantastbaren Souveränitäten oder weiß der Teufel was
sonst noch beruhten. Monoton wiederkehrende Absurditäten, die einem
kranken Gehirn entsprungen und in der Wirklichkeit schließlich
geronnen waren.
Im letzten Distrikt war es ausdrücklich verboten gewesen, größere
Mengen an Alkohol einzuführen. Also waren die Schmuggler hundert
Meter vor dem Schlagbaum geschlossen ausgestiegen und im Pulk mit ihrem
Handgepäck über die Grenze marschiert. Die Zöllner hatten
den Bus nachlässig durchgesehen, es lag ein Haufen herrenloser
Reisetaschen auf dem schmutzigen Boden herum, eine Zuordnung blieb aussichtslos.
Also winkte man den Bus durch. Keine Beschlagnahme, kein Terror, man
kannte sich, der Form war Genüge getan. Schwatzend und lachend
waren die Ausgesetzten wieder auf ihre Plätze zurück gekehrt.
Jetzt verhielt es sich allerdings anders. Mit hoher Wahrscheinlichkeit
erfolgte hier eine sogar ziemlich scharfe Kontrolle. Und zwar auf alles
mögliche. Zumindest hatte man Tonio dies vorher mehrfach erzählt.
Er solle bloß die Augen offenhalten, an dieser Grenze verstünden
sie absolut keinen Spaß, gäbe es keine Toleranz, wenn man
etwas bei ihm fände. Doch soweit er dies von seinem Platz aus erkennen
konnte, war nur ein einzelner Polizist anwesend. Allerdings konnte er
sich nicht darüber nicht sicher sein. Es war noch immer nicht hell
genug um das Gelände zu überblicken.
Der Beamte erhob sich nur zögerlich und schwerfällig von seinem
Stuhl. Der hier mitten im Nirgendwo vor einer Holzbaracke stand. Was
für ein dämlicher, überflüssiger Job dachte
sich Tonio, er behielt ihn aus den Augenwinkeln fixiert. Der obligatorische
Schlagstock schwang in einer rissigen Lederkoppel leicht rhythmisch
hin und her. Dann bewegte der Mann sich träge auf den Bus zu. Sichtlich
missvergnügt.
Tatsächlich wurde Tonio nun rasch wacher. Je näher der Zöllner
kam. Der Posten ließ seinen Blick von außen über die
müden Gesichter der Reisenden gleiten. Er schien nach auffälligen,
nach nervösen und angespannten Gesichtern Ausschau zu halten. Er
war ungewöhnlich dick, atmete wohl auch infolge dessen so schwer.
Dann senkte er seine Taschenlampe wieder, mit der er sie geblendet hatte
und bewegte sich zielsicher auf den Fahrer zu. Es wurden Worte gewechselt,
der Tonfall war gereizt. Man war sich ganz offensichtlich nicht einig.
Tonio gefiel die ganze Situation zunehmend weniger. Er bemühte
sich ruhig zu bleiben. Er konnte jetzt nur noch warten. Dann machten
sie einander Gesten. Waren dies Drohgebärden? Es war nicht zu entscheiden.
Tonio verspürte das dringende Bedürfnis sich eine Zigarette
anzuzünden. Aber das hätte nur unnötige Aufmerksamkeit
verursacht, wenn er jetzt anfing zu rauchen. Also unterdrücke er
diesen Impuls. Er sah ungerührt in den dunklen Morgen hinaus, wartete
weiter.
Der neben ihm sitzende Reisende war mit dem Kopf auf Tonios Schulter
eingeschlafen. Er verbreitete Wärme und Ruhe. Seine Gesichtszüge
waren abstoßend erschlafft. Es drängte Tonio, ihn von sich
wegzustoßen. Oder ihn anzuschreien. Aber auch das war nicht möglich.
Also begann er zunächst seinen eigenen Körper ein wenig durchzuchecken.
Er konnte tief und leicht atmen, kein Asthma im Anzug. Nicht einmal
ansatzweise. Er reckte sich, dehnte Arme und Beine soweit die beengte
Lage es zuließ. Bis auf ein leichte Prellung am Knie schien er
die Fahrt gut überstanden zu haben. Bis auf den Typ neben ihm.
Er nervte, er schien mit einem Male nicht mehr erträglich. Er nahm
ihm nicht nur dreist Platz weg, er berührte Tonio auch und Tonio
war jede Art von ungewollter Berührung aus tiefster Seele zuwider.
Er schob ihn also vorsichtig zurück in die ihm zustehende Position.
Dies allein reichte allerdings nicht aus, die Lage war schlicht zu labil,
der Schläfer drohte auf ihn zurückzufallen. Also lehnte Tonio
ihn soweit es ging in den Mittelgang hinein. Das hatte zumindest für
einige Minuten Aussicht auf Erfolg.
Nun wurde endlich ein Paket aus dem Fahrerfenster gereicht. Jemand schimpfte.
Ein anderer lachte und auch der Grenzwächter lachte nun plötzlich
barsch zurück. Er gab einen kurzen Wink, es folgte ein lauter Zuruf.
Endlich hatten sie passiert. Der Wechsel auf die andere Seite war vollzogen.
Der Bus gewann rasch an Geschwindigkeit und Tonio konnte von einer Sekunde
auf die andere eine ungeheuer weite Ebene erkennen, die sich unter ihnen
dehnte. Staub lag über den Land. Und Licht. Überall nur trockene
Wildnis, kein Haus, kein Dorf, keine Stadt waren zu sehen. Sie begannen
zu rasen.
715 a.m.
Die Sonne stieg mit atemberaubender Geschwindigkeit in den Himmel.
Doch es erschien ihm eigentümlich, dass dieser Vorgang sich in
so vollkommener Lautlosigkeit vollzog. Je mehr sich der Bus der Küste
näherte, desto kühler, feuchter, ja sogar dunkler schien es
wieder zu werden. Man könnte fast meinen, die feinsten Splitter
der Brandung reichen bis hierherauf, kreiste es Tonio durch den
Kopf.
Er würde heute aller Wahrscheinlichkeit nach einen ziemlich lockeren
Tag haben. Wie eigentlich immer in der letzten Zeit. Seine Perspektive
war damit zum Glück wieder einmal auf das Wesentliche beschränkt:
Sich gut fühlen und den Rest laufen lassen. Jetzt zog er doch eine
Zigarette aus dem Päckchen hervor, das er direkt neben seinem Sitz
in die Fensterleiste aus Blech geklemmt hatte. Es war zwar verboten,
während der Fahrt zu rauchen, aber bis sich jemand beschwerte,
konnte er zumindest ein paar Züge nehmen. Tonio schaffte sogar
die ganze Zigarette, anscheinend war es allen Anderen egal oder sie
schliefen noch zu fest um den Rauch zu bemerken.
Jetzt konnte er jene Kleinigkeiten angehen, die nicht länger aufzuschieben
waren. Sonst gingen die Dinge blindlings ihren eigenen Gang, entwickelten
sich nicht so, wie er es sich erhoffte. Doch im Moment hatte er wenigsten
noch ein paar Minuten Zeit und eigentlich auch noch keine rechte Lust
sich um etwas festes zu kümmern.
Mittlerweile war es hell genug geworden, um die am Straßenrand
in Reihen angepflanzten Bäume deutlich zu erkennen. Tonio spielte
ein wenig mit ihnen. Mal behielt er einen von ihnen fixiert, nahm ihn
fest ins Auge und versuchte alle Einzelheiten der Gestalt zu registrieren
bis er ihn wieder aus dem Blick verlor. Dann liess er sie alle ziehen.
Sie rauschten in Gruppen vorbei, verschwammen, er nahm nur noch ihre
vage Masse wahr. Die Kronen waren ausnahmslos mit der rötlichen
Erde bedeckt, welche durch die vorübereilenden Fahrzeuge aufgewirbelt
worden war. Sie waren so schmutzig und verkrustet, wie sie zugleich
vital, fast strahlend wirkten. Dieser Rotton lag überhaupt auf
allem, in seinem Blickfeld. Es musste eine halbe Ewigkeit her sein,
dass es hier geregnet hatte. Das Land war bis auf die Knochen ausgetrocknet.
Weshalb also sahen diese lausigen Bäume so verdammt lebendig aus?
Sogar die zerschlissenen Sitze aus rotem Kunstleder vor ihm, fügten
sich in diesen faden Gleichklang der Farben ein.
Jetzt hieß es sich allerdings rühren, sonst verunglückte
ihm noch der ganze Tag, bevor er überhaupt richtig anging. Tonio
ärgerte sich, dass er sich fast schon zu lange mit seinem Nachbarn
und der frühen Landschaft beschäftigt hatte. Zwar hatte er
den Fahrer schon gestern ziemlich deutlich daraufhin mitgeteilt, an
welcher Stelle er genau auszusteigen gedenke, die Worte destination
und surely waren wie Münzen mehrfach zwischen ihnen
hin- und hergegangen. Aber das hatte nichts zu bedeuten gehabt. Also
hatte er die Erinnerung des Betroffenen auch während des nächtlichen
Stops noch gleich zweimal aufgefrischt, aber er war sich fast sicher,
dass jener auch dieses Ansprache längst wieder vergessen hatte.
Zumindest dass es ihm gleichgültig war, stand außer Frage.
Also wand sich Tonio etwas steif und ungelenk über die verstreuten
und verkeilten Arme und Beine der regungslosen Passagiere nach vorn
ins Cockpit.
Der Blick des Fahrers gab überdeutlich zu verstehen, dass er sich
durch Tonios Auftauchen auf das Äußerste gestört fühlte.
Aber das war ja schließlich auch das Ziel, der Sinn und Zweck
dieser Aktion. Tonio ließ sich nicht beirren. Er starrte ihn an,
ohne zunächst etwas zu sagen. Dieser große dürre Mann
am Lenkrad war von einer geradezu erschreckenden Hohlwangigkeit. Wie
lange er wohl die Nachtstrecke schon fuhr? Zu lange jedenfalls.
Es ging nun eines der üblichen Rituale an. Tonios Organisationswut
stand im immer gleichen aussichtlosen Kampf gegen die unermessliche
Gleichgültigkeit der Einheimischen. Er schätzte diese völlige
Gelassenheit an ihnen. Ja, er bewunderte sie sogar bis zu einem gewissen
Grad. Aber er ertrug sie nicht. Wenn sie ihm und seinen Plänen
in die Quere zu geraten drohte, dann machte ihn dies genauso unermesslich
wütend. Manchmal begriffen sie dann seinen Zustand, manchmal nicht.
"Guten Morgen, Sir, ich wollte nur fragen, ob wir bereits ..."
Die Ersatzchauffeure warfen sich übernächtigte und gelangweilte
Blicke zu, deren Inhalt Tonio sich wiedergab als: Der Spinner
schon wieder, es darf wohl nicht wahr sein!
"Wir geben Ihnen auf alle Fälle Bescheid, Sir", entgegnete
der Fahrer in höflichem Tonfall. Er sprach dabei mit hoher und
leerer Stimme. Blanker Sarkasmus. Da die Situation allerdings noch nicht
ausgereizt erschien, sich von ihrem Ergebnis her vielleicht überhaupt
noch in der Schwebe befand, blieb Tonio regungslos neben ihm stehen.
Er hatte definitiv keinen Anhaltspunkt um zu beurteilen, ob seine Botschaft
angekommen war. Er lehnte sich also wie zufällig noch weiter in
Richtung des Fahrers. Wenn man den Leute in die innere Aura drang, reagierten
sie deutlich agiler. Dann hakte er nach: "Wie lange wird es denn
ihrer Meinung nach noch etwa dauern, Sir. Also ganz grob und ungefähr?"
Eine sinnvolle Antwort in Hinsicht auf verwertbare und tendenziell überhaupt
nachvollziehbare Zeit- und Distanzangaben war nicht zu erwarten. Es
ging lediglich darum, Tonios Präsenz chronisch lästig werden
zu lassen. Damit eine ausreichende Spannung zu erzeugen. Der Fahrer
musste begreifen, dass es für ihn definitiv weniger mühsam
war, Tonio rechtzeitig aussteigen zu lassen, als ihn für der Rest
der Fahrt mitsamt seinem dummen Gefrage ertragen müssen.
"Wir melden uns. Ganz sicher, Sir."
Auch wenn es ihm mittlerweile selbst unangenehm war, blieb Tonio noch
eine Weile bei den Männern im Cockpit stehen. Sie schwiegen. Er
starrte mit ihnen gemeinsam auf den blendend orange unter ihnen hinwegrasenden
Asphalt. Dann zog er sich zurück. Er wollte sie nun auch wieder
nicht gleich soweit reizen, dass sie ihn schon an der nächstbesten
Haltestelle aussetzten.
Tonio kletterte also wieder auf seinen Platz zurück. Er überlegte
ob er es wagen konnte, noch eine Zigarette zu rauchen. Doch schon winkte
ihm einer der Beifahrer und rief: "Jetzt!"
Keine Vorankündigung. Das hatten Sie mit Absicht gemacht, die Säcke.
Vielleicht hatte er es doch überzogen. Aber ihnen widersprechen
konnte er schlecht. Mit welchem Grund wäre dies möglich gewesen?
Hastig weckte er also Gregor auf, der zwei Reihen vor ihm mit bereits
leicht geöffneten Lidern döste. Gregor zog auf Tonios Ansprache
hin lediglich die Brauen kurz und sichtlich pikiert zusammen. Dann kräuselte
er ansatzweise seine Stirn. Der Umstand auf ein solch banales Erfordernis
reagieren zu müssen, störte ihn sichtlich. Reaktionen waren
Gregors Sache prinzipiell nicht. Aktionen noch weniger. Außer
ihnen beiden verließ dann auch niemand den Bus.
745 a.m.
Die Haltestelle bestand lediglich aus einem großen grobbehauenen
Stein in Quaderform, der schiefgeneigt in der Erde steckte. Sie war
wohl unter seinem Gewicht leicht abgesunken. Die eingekerbte Schrift
konnte man längst nicht mehr entziffern. Tonio war verstimmt. Was
sollte das jetzt? Sie standen hier einfach auf irgendeiner idiotischen
Landstraße herum. In welcher Richtung das Dorf lag, wusste er
nicht. Woher auch? Vielleicht querfeldein. Vielleicht aber auch nicht
und jetzt wurde es auch noch schweineheiss und Wasser hatten sie natürlich
keines dabei. Er kramte sich eine Zigarette aus seiner Tasche. Er zündete
sie an. "Na sauber" stöhnte er. Wenigstens konnte er
jetzt in Ruhe rauchen. Mit Gregor brauchte er die Situation nicht zu
diskutieren. Also beschloss er, in die unbekannte Richtung ihrer Straße
loszumarschieren. Dort waren sie wenigsten noch nicht gewesen. "Ach
leckt mich doch alle" maulte Gregor und schleppte sich hinterher.
Es war staubig und hell, seine Augen schmerzten jetzt dennoch etwas
weniger.
8 a.m.
Sie hatten tatsächlich Glück. Nach nur einer Viertelstunde
gelangten sie zu den ersten Häusern. Tonio äußerte sich
als erster. Und das sogar noch in einer halbkulanten Konversationsgeste:
"Hey Gregor, sollen wir uns unseren Schlafplatz gleich suchen oder
willst du erst mal in die Bar da drüben und was frühstücken?"
"Eher letzteres" antwortete Gregor. Der Unwille über
den unvermittelten Beginn des Tages stand ihm noch immer deutlich ins
Gesicht geschrieben. Vernehmbar ausatmend setzte er sich Bewegung, wohl
zum Teil auch einfach nur deswegen, um ihr Gespräch nicht weiter
fortführen zu müssen.
Sie traten durch ein blaues, etwas schief in seinen rostigen Angeln
hängendes Metallgatter. Dann durchquerten sie einen kleinen, mäßig
gepflegten Garten und steuerten auf ein weißgekalktes Steinhaus
zu. Der Boden des kleinen rechterhand angefügten Anbaus bestand
aus aufgeschüttetem Sand. Sie ließen sich dort wortlos auf
grobgeflochtenen Korbsesseln nieder.
Der Mann, der auf dem einzigen Barhocker an der Theke saß, zeigte
augenscheinlich wenig Anteilnahme an ihrem Erscheinen. Er hatte ein
Glas Milch vor sich stehen. Er stierte einfach desinteressiert und ohne
Regung auf die Straße hinaus, wobei er den schrägliegenden
Kopf mit der offenen Hand abstütze. Ob er soeben erst aufgestanden
war, oder ob er ein nächtliches Strandgut vorstellte, denn jede
gutgeführte Bar hatte schließlich ihr mehr als treues Inventar,
blieb schwer zu entscheiden. So oder so, ob am frühen Morgen oder
mitten in der Nacht, wahrscheinlich verhielt er sich niemals auf andere
Art und Weise.
Tonio blätterte also vorerst in der Speisekarte herum, die auf
dem verklebten Tisch herumlag und wartete. Hunger verspürte er
keinen. Oder doch? Er hatte keine Ahnung wie er sich fühlte. Wie
könnte er sich denn fühlen? Wie sollte der sich denn fühlen?
Er konnte ja zunächst einmal einen Tee bestellen und dann entscheiden.
Oder wäre ein Drink nicht die bessere Wahl für den Augenblick?
Er beschloss einfach abzuwarten, was Gregor tat. Was ihm zwar auch nicht
weiterhelfen würde. Aber er hatte für heute schon genug Engagement
gezeigt, so konnte das nicht weitergehen.
Es geschah nichts. Über allem lag wie ein Teppich diese allgegenwärtige
Gleichgültigkeit. Tonio sah sich außerstande eine Entscheidung
zu fällen. Die Dinge ereigneten sich zu ihrer Zeit, aber sie bildeten
keine Ketten. Sie schlugen höchstens ein mehr und minder wirres
Kreuzmuster, aber sie waren untereinander nicht wirklich, nicht dauerhaft
verknüpft. Mehr gab es nicht festzustellen. Was hätte er auch
sonst sagen sollen. Vielleicht dass die Zeit im kleinen fest, aber über
einen größeren Zeitraum nicht mehr zu verfolgen war? Dass
sie dann mehr und mehr aus Löchern, aus einer unterbrochenen Reihe
nur noch undeutlicher Empfindungen bestand? War dies nicht gleichfalls
belanglos?
Nach einer ganzen Weile drehte der Mann am Tresen seinen Oberkörper
andeutungsweise in Richtung des Hinterhofs. Dann erstarrte er wieder.
Plötzlich riss er sich hoch und rief erstaunlich bestimmend: "Nick,
mach dass du herkommst!"
Ihm gehörte also das Restaurant. Er war fett, er war phlegmatisch,
gab sich herrisch. Sich zu bewegen blieb weit unter seiner Würde.
So war das System eingerichtet, alles Körperliche blieb ohne Ausnahme
eine Angelegenheit der niederen Bediensteten. Gut nur ein Reisender
zu sein. Gut vor allem Geld zu haben.
Der Typ war hier klar der Boss und Nick der Handlanger. Er wandte sich
ungefähr in die Richtung seiner ersten Gäste. Ohne sie dabei
anzusehen erkundigte er sich nach ihren Wünschen: "Frühstück?"
Da Gregor die an ihn gerichtete Frage nicht als hinreichenden Grund
eine Antwort zu entrichten betrachtete, nickte Tonio in Stellvertretung.
a.m.
Hinter Tonios Rücken näherten sich Schlurfgeräusche.
Er wartete regungslos, aber doch unter leichter innerer Anspannung,
auf den Augenblick, da das Faktotum Nick in seinen Gesichtskreis treten
würde. Der Kellner trat gebückt an ihren Tisch. Er war bekleidet
mit einem khakifarbenen, schiefgeknöpften Hemd und einem fest um
die Taille gewickelten Tuch in dunklem Blau. Er war wohl auf Mitte dreissig
zu schätzen. Sein Teint schien Tonio außergewöhnlich
hell. Und auch seine eher längliche Gesichtsform mit der scharfen
Nase, ließen vermuten, dass es sich um einen Saisonarbeiter aus
dem Norden handelte.
"Was möchten Sie, Sir?"
"Was habt ihr?" fragte Gregor ohne seinen Blick von einer
Karte zu heben, welche zufällig offen vor ihm auf dem mit Sand
bestreuten Boden lag.
"Eier."
"Gut."
"Gekocht oder gebraten, mit Brot oder Toast?"
"Gebraten und Toast."
"Und Sie, Sir?" wandte sich der Bedienstete nun routiniert
Tonio zu.
Tonio hatte sich noch immer nicht entschieden, ob er nun etwas frühstücken
sollte.
"Nur Tee bitte, Sir."
Der Kellner Nick zog los. "Ach und doch noch vielleicht einen Rum
und etwas Soda" rief Tonio hinter ihm her. Er wusste wirklich nicht,
wieso er sich oftmals gerade auf diese nebulöse Art und Weise äußern
musste. Es war ein innerer Zwag. Es überfiel ihn schlichtweg. Immer
im letzten Moment eines Gesprächs. Er irritierte sich selbst damit
ungeheuer. Er machte sich nervös damit. Wahrscheinlich mehr noch
als seine Umwelt. Ob es anderen mit sich und ihren Äußerungen,
die aus ihnen herausfielen, auch so erging, wusste er allerdings nicht
sagen. Er hatte noch niemanden danach gefragt. Das würde wohl nur
noch Verwirrung stiften.
Die Farben der entfernteren Gegenstände begannen merklich auszublassen.
Tonio setzte seine Sonnenbrille auf, obwohl er es eigentlich verabscheute
sie zu tragen. Er war fest davon überzeugt, dass die meisten chronischen
Sonnenbrillenträger eine genauso chronische Macke hatten. Es war
zwanghaft. Eine Art von Entsprechungsverhältnis. Aber seine Augen
waren eben auch verdammt empfindlich. Nicht nur sein Ego.
Eier und Tee wurden ihnen serviert. Danach erst Rum und Soda. Es hätte
sich anders herum verhalten müssen. Durch das Dach aus getrockneten
Palmblättern fielen unzählige winzige messerscharfe Lichtstrahlen
auf den Tisch. Es handelte sich um eine höchst provisorische Überdachung.
Voller Ritzen und kleiner Löcher. Es stand nur dieser einzige riesige
Tisch im Anbau. Zwanzig Personen konnten mühelos an ihm zugleich
Platz finden. An seiner zerkratzten Holzoberfläche klebten verschiedene
Essensreste sowie eine zerrissene Serviette. Ihre Ränder flatterten
unregelmäßig im Wind. Im Inneren des Restaurants waren noch
einige separate Sitzgelegenheiten eingerichtet. Nicht gerade ein gehobenes
Ambiente. Aber immerhin.
Staubteilchen tanzten jetzt in der Luft. Tonio hob seine Hand. Sie schwebten
lautlos um seine Finger. Er herrschte ein angenehmes Halbdunkel. Draußen
verbrannte die Welt. Der Asphalt der Straße erschien fast weiß.
Er trank seinen Rum aus und schloss die Augen.
10.30 a.m.
Gregor hatte mittlerweile die Eier gegessen. Und sackte ab. An seiner
neuen Körperhaltung ließ sich deutlich erkennen, dass er
gedachte, die nächsten Stunden bewegungslos zu verbringen. Dieses
Verhalten deckte sich jedoch in keinster Weise mit Tonios weiteren Anliegen.
Fuck off, dachte sich Tonio, warum muss denn immer
ich den Stress anzetteln? Warum ist hier kein Mensch in der Lage, selbst
mal was anzuschieben?. Warum bleibt das alles schon wieder an mir hängen?
Er begann sich mit einem Schlage wieder gereizt zu fühlen. Wahrscheinlich,
weil kein Bedarf dafür vorhanden ist, erteilte er sich selbst
die Antwort und merkte wie er wieder ruhiger wurde. Doch er konnte sein
Naturell ebensowenig unterdrücken. Also beschloss er die Dinge
ebenfalls laufen zu lassen. Nur eben in seinem, in einem ganz anderen
Sinne.
Ihr eigentliches Ziel war ein kleines Hotel, welches direkt an der Küste
gelegen sein sollte. Sie waren nun schon seit einigen Tagen unterwegs
und es konnte nicht mehr weit sein. Vielleicht noch ein paar Kilometer.
Wenn überhaupt. Nun, falls sie denn überhaupt an der richtigen
Stelle ausgestiegen waren.
Tonio kotzte es zunehmend an, seit Tagen nun in den immer gleichen Kleidern
herumzulaufen. Sie klebten weich an seinem Körper, waren zu einer
feuchten zweiten Haut geworden. Er hasste es, jede Nacht auf Bahnhöfen,
Busstationen oder sonstwo immer nur auf ein paar Stunden herumzuhängen.
Überall Bettler, Reisende, Offizielle. Blaue Neonlichter, überraschender
Kälteeinbruch. An jeder Ecke Geschrei, Gezerre, überflüssige
Fragen. Er hatte das dringende Bedürfnis sich zu waschen. Intensiver,
gründlicher und ausdauernder als sich jemals ein Mensch vor ihm
gewaschen hatte. Eine Tür hinter sich zuschließen. Sich verbarrikadieren.
Sich auf eine Matratze werfen. Diese penetrante Öffentlichkeit
der Reise war im gänzlich unerträglich geworden. Sie war das
Schlimmste an allem. Schlimmer als der Schmutz, schlimmer als die vielen
kleinen lästigen Entzündungen. Er sehnte sich nach Stille
und nach Dunkelheit, dem völligen Alleinsein. Und dann vielleicht
ein paar Flaschen Bier, noch ein Buch dazu. Das war seine gegenwärtige
Vorstellung eines paradiesischen Daseins. Sie füllte ihn ganz aus,
war eine Vision. Kein Mensch konnte in seiner lumpigen Existenz mehr
erhoffen, dessen war er sich ziemlich sicher. Seine Ungeduld wuchs.
Jenes Hotel, oder jenes Restaurant, oder jene Bar, oder wie auch immer
man es nennen mochte, denn diese Bezeichnungen waren willkürlich
und bezeichneten in etwa alle das selbe, war ihnen vor einiger Zeit
von jemandem empfohlen worden, den sie zufällig unterwegs getroffen
hatten. Man hatte einen Whiskey zusammen getrunken, sich kurz über
seine bisherigen Erlebnisse unterhalten, Reiseadressen getauscht.
"Wenn ihr weiter in den Süden wollt" hatte die Frau mit
Nachdruck gesagt, zumindest glaubte Tonio sich erinnern zu können,
dass es eine Frau gewesen war, die ihnen diesen Tipp gegeben hatte,
"schaut dort mal vorbei. Ist nett. Was Besseres findet ihr in der
Gegend nirgends". Es sei billig und direkt am Beach gelegen. Und
es kamen wohl nur wenige Leute dorthin, und wenn sie sich schon überhaupt
je dort einfanden, dann angeblich gezielt. Wegen genau dieser Vorzüge.
Nun ja, man kannte diese Fabelwesen der Mundpropaganda zur Genüge.
Doch da sie sonst nichts vorhatten, war dieser Ort ebensogut wie jeder
andere, um ein paar Tage auszuruhen. Ohne klare Ziele ging es einfach
nicht im Leben.
Gregor grub sich immer tiefer in seinen Sessel und hißte bereits
augenfällig die Segel. Um auf dem großen ihm so vertrauten
Ozean der totalen Abwesenheit zu kreuzen. Darin, das musste Tonio ihm
denn auch neidlos zugestehen, war er zu unüberbietbarer Meisterschaft
gelangt.
Um ihn gar nicht erst richtig abtauchen zu lassen, musste umgehend etwas
unternommen werden. Ob Gregor auf eine direkte Ansprache reagieren würde,
blieb höchst ungewiß. Es war sogar eher unwahrscheinlich.
Als er den Kopf etwas kreisend bewegte und seine Halswirbel leise knirschend
ihre neue Lage fanden, hatte Tonio damit einen Aufhänger an der
Hand.
"Na, verspannt?"
"Scheißnacht" murmelte Gregor vor sich hin. Richtungslos,
ungerührt.
"Ach, jetzt komm schon! So schlimm kann es doch gar nicht gewesen
sein, stell dich nicht an" entgegnete Tonio, wobei er einen kaum
merklichen, leicht unduldsamen Ton in seine Stimme legte.
Diese gezielte Provokation musste Gregor nun mit Sicherheit aufrühren.
Er selbst reagierte höchst dünnhäutig, wenn jemand in
seiner Gegenwart auch nur ansatzweise über äußere Unannehmlichkeiten
zu lamentieren wagte. Zwar ließ er sich selten dazu hinreißen,
solche Litaneien zu kommentieren, denn ein solches Verhalten läge
ja nun augenscheinlich wiederum weit unter seiner stoischen Würde,
aber dass er sie ausnahmslos verachtete, war stets überdeutlich
zu verspüren. Ihm selbst eine auch nur im Ansatz wehleidige und
verweichlichte Haltung gegenüber unluxuriösen Umständen
zu unterstellen, grenzte damit an schiere Beleidigung. Es bedurfte da
nicht vieler Worte, ihn an dieser Stelle zu treffen. Völlige Bedürfnislosigkeit
war einer der unausgesprochenen aber tiefstgegrabenen Eckpfeiler seines
Selbstverständnisses. Wenn Gregor in seinem Leben jemals überhaupt
so etwas wie einen echten Ehrgeiz entwickelt haben sollte, dann war
es sicherlich jener, durch seine immer auf das Grundsätzliche gehende
und dabei weitgehend wort- wie lautlose Lebensart, ein Maultier in den
Schatten zu stellen. Es neben sich als verhätscheltes Geschöpf
wirken zu lassen.
Gregor zeigte keine Reaktion, er schwieg und starrte vor sich hin. Der
Großinquisitor bedachte regungslos die häretische These.
Tonio reichte ihm beiläufig eine Zigarette, sie saßen und
rauchten. Eine herbeigeflogene Krähe begann sich für den leeren
Teller zu interessieren, wagte sich jedoch nicht näher heran, nicht
zu ihnen unter die Überdachung. Sie hüpfte unruhig umher.
Umkreiste den Tisch mit unsicheren hektischen Sprüngen. Immer die
Menschen wie das Ziel im Blick. Tonio rauchte eine zweite Zigarette
und betrachtete aufmerksam die Lichtstrahlen, welche sich im schmierigen
Rand seines leeren Glases brachen. Dann fing es endlich an.
"Ich habe ja nicht gesagt, dass ich nicht damit klarkomme."
"Das wollte ich damit auch nicht zum Ausdruck bringen" lenkte
Tonio ein. "Gehn wir?"
"Schon?" Gregor streckte sich nicht einmal. Totale Verweigerung.
War das die Revanche?
"Nun, ich habe eigentlich wenig Lust hier noch länger abzuhängen.
Und wenn du sowieso nicht angeschlagen bist, dann können wir ja
genauso gut, jetzt gleich losziehen, oder?"
"Hm - eigentlich habe ich keine Lust hierzubleiben. Wobei. Genaugenommen
ist es mir scheißegal."
Jetzt dehnte Gregor immerhin den rechten Arm. Sie bezahlten und fragten
den Besitzer nach der gesuchten Adresse. Dieser deutete leicht schwankend
in eine Richtung über die Straße: "Diesen Weg".
Hinter der Straße lag jedoch nur ein offenes sandiges Feld, auf
welchem in Gruppen einige braune Büsche und verdorrte Gräser
standen.
"Da ist aber kein Weg" entgegnete Tonio ihm.
Der Gefragte jedoch hatte schon wieder jegliches Interesse an der ehemaligen
Kundschaft verloren und starrte mit glasigen Augen vor sich hin.
"Und wie weit?" setze Tonio nach.
"Nicht weit."
"Wie viele Minuten müssen wir gehen?"
"Zehn Minuten".
Gregor grinste vor sich hin. Es amüsierte ihn ganz offensichtlich,
wie Tonio sich wieder einmal erfolglos bemühte nach seinem Verständnis
exakte Orts- oder Zeitangaben aus jemandem herauszuquetschen, den das
nicht die Bohne interessierte.
"Du kannst es einfach nicht sein lassen, was?"
"Ach, vergiss es doch Mann!"
Als sie das Gatter erreicht hatten, wandte Gregor sich noch einmal um
und rief willkürlich deutend: "Hier lang, Mister?" Er
wies mit seinem linken Arm schräg nach oben in den Himmel. Der
Mann wiegte den Kopf mehrere Male zwischen seinen Schultern. Gregor
lächelte süffisant. Dann marschierte er los: "Siehst
du Tonio? Das nenne ich eine ordentliche Planung!"
Tonio trottete mit der Sodaflasche in der Hand hinterher.
12 a.m.
Sie gingen etwa zwei Kilometer über die gebrochenen Stoppeln des
Feldes hin. Die kleineren Büsche schienen durchweg nur noch Totholz
zu sein. Wirr und verschlungen. Vielleicht dass die Wurzeln noch ein
wenig Leben zurückhielten. Vielleicht aber auch nicht. Dann tauchten
mit einem Male vereinzelte, ungeheuer große Bäume auf. Es
war wieder dieser eigentümliche Eindruck, den Tonio schon während
seiner Fahrt empfangen hatte: Sie wirkten fleischig und fett wie sie
zugleich trocken, abgestorben schienen. Zwar machte die unerträgliche
Hitze hier allen Pflanzen unterschiedslos zu schaffen, dennoch war dieses
fast schon tropische Klima auf der anderen Seite geradezu ideal für
ihr Wachstum. Die armdicken Luftwurzeln der Baumriesen reichten von
der Krone bis hinab unter die Erde. Gregor und Tonio duckten sich unter
ihnen hindurch. Dann stießen sie auf die ersten Palmenhaine. Damit
veränderte sich die Atmosphäre der Landschaft gravierend.
Es war nun eine hellere, eine leichte, eine gelöste Szenerie. Was
bislang trotzend, abgelebt gewirkte hatte, wurde nun mit einem Male
sandig, frei, grün. Die frischen Blätter der Palmen stachen
unwirklich vom hellen Blau des Himmels ab.
Im Schatten einer provisorischen Hütte aus Blättern, etwas
Blech und anderem Strandgut hielt sich eine kleine Gruppe dunkler Menschen
auf. Sie kauerten regungslos im Kreis, sprachen nicht. Im Vordergrund,
ihnen zugewandt, hielt eine junge Frau ein Bündel auf dem Arm.
Sie allein stand. Es war wohl ihr Kind, welches sie da vor sich hin
hielt. Die achtlos gewickelten Lumpen ließen nichts näheres
erkennen. Keinen Kopf, keine Gliedmaßen. Ihr Kopf hing etwas vornüber.
Ein braunes Tuch bedeckte ihr Gesicht zur Hälfte.
Tonio mochte sie nicht nach dem Weg fragen. Er verspürte das unbestimmte
Gefühl, es sei unangemessen. Er werde von der Gruppe auch vielleicht
überhaupt keine Entgegnungen erhalten. So passierten sie grußlos.
Er hatte weiter das Bedürfnis sich noch einmal nach ihnen umzudrehen.
Doch er unterdrückte diesen Impuls.
Kurze Zeit später jedoch tauchte tatsächlich noch eine abgelegene
Häusergruppe vor ihnen auf. An einem dieser Gebäude war tatsächlich
ein rotgelb bemaltes Schild angebracht. Darauf stand in lateinischer
Schrift zu lesen: Bar C. Bar'n Restaurant. Es hing wohl schon seit Jahren
hier, denn es war stark ausgeblichen und wies große Flächen
von Rostfraß auf, welche sich von den Kanten her ausbreiteten.
Aber auf Tonio machte es einen ungeheuer anziehenden Eindruck. Er versprach
ihm Leben und Frische.
1.30 p.m.
Die Front des Haus selbst war gänzlich weißgekalkt. Auch
der eingeschossige Bau, das leicht vorgezogene und dabei nur leicht
geschrägte Dach wiesen alle typischen Merkmale der regionalen Architektur
auf. An einigen Stellen stachen allerdings bereits die roten, porösen
Steine des Mauerwerks bunt hervor, was den Anschein eines sich noch
in den Anfängen befindlichen, doch bereits sichtbaren Verfalls
hervorrief, eines Verfalls allerdings, der nichts schweres oder niederdrückendes
an sich hatte.
Es war in seiner Länge von einem etwa fünf Meter langen und
höchstens einem Meter breiten, dabei aber äußerst gepflegten
Ziergarten umstanden. Weißer Oleander blühte darin, auch
einige bunte Blumen in gelb und rot, deren Namen Tonio allerdings gänzlich
unbekannt waren. Linkerhand hatte man ein auf Betonsäulen gestütztes
und nach allen Seiten hin offenes Nebengebäude errichtet. Dies
hatte man allem Anschein nach erst nachträglich in Angriff genommen.
Seine Bausubstanz war von deutlich weniger guter Qualität. Es wies
eine überwiegend weiße und hellblaue Bemalung auf und diente
ganz offensichtlich dem Zweck die Gäste zu bewirten. Während
das Wohnhaus selbst parallel zu den hier schon deutlich die Landschaft
prägenden Dünen errichtet worden war, nahm das Nebengebäude
einen rechten Winkel zum Verlauf der Küstenlinie ein. Doch dieser
Anbau trug, im Gegensatz zu der Bar, die sie gerade verlassen hatten,
kein mit trockenen Palmblättern gedecktes Dach, sondern besaß
eine Betondecke.
Sein hinteres Ende war jedoch weniger ein eigenständiger Raum,
es erinnerte vielmehr an eine Art von Höhle. An der dem Meer abgewandten
Seite blieb es offen, links besaß es eine schmale niedere Tür,
durch die man in diesen Verschlag gelangen konnte. Dieses recht dunkle
und provisorisch wirkende Loch hatte man mit einer Unzahl von schiefen
Regalen angefüllt. Auf ihnen standen oder lagen etwa drei dutzend
verschiedenfarbige Flaschen ohne jedes System herum, einige noch voll,
gänzlich unangebrochen, andere zur Hälfte oder manche auch
ganz geleert. Innen und außen von gräulichem Staub bedeckt.
Davor eine kleine notdürftige Theke aus Holz. Mitten auf ihr ein
goldener Blechaschenbecher. Festgenagelt. An den Enden des Verschlags
zwei barock wirkende Kerzenhalter. Stromausfälle waren hier an
der Tagesordnung, Kerzen waren überlebenswichtig, die Wirte konnten
sonst ihren Barbetrieb einstellen. Der Boden des Gästeraums war
mit Strandsand aufgeschüttet worden und auch hier stand in der
Mitte ein einziger, etwa drei Meter langer und achtzig Zentimeter hoher
Tisch. Er wiederholte die vorherrschende Farbstruktur des Raumes, seine
Oberfläche bestand aus glasierten hellblauen und weißen Kacheln.
Er schien fest in die Erde eingelassen.
Sie ließen ihre Gepäck neben sich zu Boden gleiten und Tonio
setzte sich erschöpft auf eine der beiden je längsseitig gestellten
Holzbänke. Es tat gut, endlich wieder im Schatten zu sein. Gregor
streckte sich, trotz der sichtbar labilen Gerätschaft, gleich der
Länge nach auf der Bank aus. Er faltete seine Hände über
der Brust und schloss die Augen. Tonio besah siech weiter die Umgebung.
In einigen frisch gescharrten Sandkuhlen duckten sich jetzt die Hühner
zusammen, um ihre Küken zu kühlen.
Wie mit der Zeit, so schien es auch mit dem Orten zu sein. Mitunter
waren sie scharf, minutiös in jedem Detail, dann wieder gelang
es ihm tagelang keine Unterscheidung zu treffen, alles verschwamm, war
unscharf, glich sich zum verwechseln. Bot keine Möglichkeit der
Orientierung.
Sie warteten. Jedes Geschehen schien nun völlig ausgesetzt. Tonios
Lider fielen herab. Nichts konnte sich ereignen. Nie wieder würde
sich etwas ereignen. Er rauchte. Dann legte Tonio den Kopf in die Hände.
Gregor schien zu schlafen.
Irgendwann wurde er eines hageren älteren Mannes gewahr, der endlich
vom Haus her auf sie zuschlich. Sehr langsam allerdings.
p.m.
"Willst du etwas zu essen?"
"Nein, wir wollen eigentlich zwei Zimmer"
"Wer wir?"
Tonio deutete auf den neben sich liegenden Gregor, welchen der Mann
aus seiner bisherigen Position noch nicht hatte wahrnehmen können.
Der Hagere kam an den Tisch, stützte sich auf die Kante und hob
leicht den Oberkörper an, um Gregor eingehend und kritisch zu betrachten.
Diese gestreckte Stellung hielt er etwa eine Minute. Er schien noch
nie einen Schlafenden gesehen haben. Oder hielt er Gregor bereits für
tot? Der Alte hatte auffällig gelbe Augen.
"Gut" meinte er etwas sinnig und wiegte dabei seinen Kopf
auf den schmächtigen faltigen Schultern.
"Können wir die Zimmer erst einmal sehen? Und falls sie wir
sie denn mieten wollten: was kostet eine Übernachtung?" Tonio
wollte das Gespräch in Fluss halten.
"Meine Frau ist gerade nicht da."
"Was kostet ein Zimmer?"
"Zwanzig die Nacht. Meine Frau ist aber auf dem Markt."
"Sind noch zwei Zimmer frei?"
"Ja."
"Wir können sie uns auch alleine ansehen. Überhaupt kein
Problem."
"Normalerweise macht das meine Frau."
"Ich dachte mir etwas in der Art. Weißt du wo die Schlüssel
sind?"
"Ja."
"Dann bringe sie doch einfach her zu uns."
"O.K."
Nach geraumer Zeit kehrte er wieder zurück. Er hielt zwei Schlösser
samt Schlüssel an einem riesigen altertümlich anmutenden Eisenring
in der knochigen Hand. Gregor und Tonio folgten seinem schleppenden,
und wie Tonio jetzt erst bemerkte, auch leicht torkelnden Gang um einen
hölzernen Geräteschuppen herum, welcher sich direkt hinter
dem Anbau befand.
Es waren also höchstens dreissig Meter von der Bar bis zu dem Zimmern.
Schräg versetzt zu dem Schuppen befand sich denn auch praktischerweise
der Hausbrunnen. Im Alltag würde das ein nicht gering zu schätzender
Vorteil sein.
Von dem Haupthaus separat stehend, allerdings nur einen mäßig
breiten Durchgang von vielleicht zwei Metern belassend und in seiner
Längsform auf's Meer weisend, stand das ebenfalls aus Beton gefertigte
Gästehaus. Es mochte wohl fünfzehn Metern Länge haben
und war mit einem Zierkacheln imitierenden Mustern bemalt. In braun
und dunkelorange. Die internen Wände gliederten es in sechs separate
Zimmer. Bis auf zwei standen alle Türen offen. Davor verlief ein
anderthalb Meter breiter mit Tonziegeln überdachter Gang. Er besaß
einem sauber polierten und sattroten Boden und erinnerte Tonio etwas
an das Aussehne von Speckstein.
Der Gang selbst wurde von einer kniehohen Betonmauer begrenzt, deren
Säulen das Vordach trugen. Dahinter lag ein kleines verwahrlostes
Stück Land. Gegen den Nachbarn durch einen rostigen alten Metallzaun
abgegrenzt, der von allerlei Wildplanzen überwuchert und an vielen
Stellen durchbrochen war. Das einzige sichtbare Haus außerhalb
des Grundstücks war etwa dreissig Meter entfernt. Es wirkte auffällig
heruntergekommen und völlig unbewohnt. Der alte Mann deutete auf
eine der unverschlossenen Türen und wies sie mit geöffneter
Hand wortlos in einen der Räume hinein.
"Zwanzig die Nacht. Was ihr zum duschen braucht, müsst ihr
aus dem Brunnen holen." Er schien von einer Minute zur anderen
von unerklärlichem Missmut befallen. Das erste Zimmer, welches
Tonio nun eingehender betrachtete, hatte eine Grundfläche von vielleicht
fünfzehn Quadratmetern. Es gab eine abgetrennte Naßzelle,
mit im Boden eingelassenem Abflussloch, welches wohl auch als Toilette
zu benutzen war. Mitten im Zimmer stand ein metallenes Bettgestell.
Mit Schnörkeln. Und einigen Holzbrettern anstelle eines Rostes.
Auf dem Boden daneben lag eine fleckige Matratze, in der Ecke befand
sich ein ziemlich maroder Holztisch mit leicht aufgesprungener Platte.
Daneben ein Stuhl, dieser nun wieder überraschend neu, ja geradezu
solide im Eindruck. Auch der obligatorische Ventilator war vorhanden.
Auf dem Boden lagen eine alte Zeitung, ein Gürtel, eine Kerze,
zwei Plastiktüten und ein Löffel herum.
"Wir nehmen die Zimmer" meinte Tonio, er nickte dem Mann,
um sich deutlich zu machen, gleich mehrfach zu. "Außerdem
habe ich Hunger. Kann ich zwei Sandwiches haben? Und zwei Gläser
und drei Soda bitte." Der Mann nickte zurück, er schien wieder
etwas zu sich gekommen: "Ich bringe alles sofort vorbei."
"Wenn es dir nichts ausmacht, hätte ich gerne das Zimmer mit
den blauen Fensterscheiben", meinte Gregor und deutete auf Zimmer
Nummer 3. Das war der Raum, welchen sie begutachtet hatten.
"Ist mir recht" entgegnete Tonio und betrat Nummer 4.
Obwohl Tonio sich ziemlich zerschlagen fühlte und er eigentlich
nur noch liegen wollte, machte er sich sofort daran, das neu angemietete
Zimmer herzurichten. Bis der Alte wiederkam, wollte er alles Wesentliche
hinter sich gebracht haben. Er ging zurück zum Schuppen, der glücklicherweise
unverschlossen war und holte sich alles nötige Gerät heraus.
Dann begann er die Matratze auszuklopfen, danach wusch er sie mit Haarshampoo
gründlich aus. Sie würde in der Sonne rasch trocknen. Er fegte
das Zimmer aus, wischte er den Boden mit einen alten T-Shirt und reinigte
anschließend das spärliche Mobiliar. Er nahm er zwei Antihistamintabletten.
Sonst würde er morgen wegen seiner verdammten Stauballergie nicht
mehr aus den Augen sehen und auch kaum noch atmen können.
Gregor ging langsamer und sorgfältiger zu Werke. Er schien es im
Gegensatz zu Tonio nicht eilig zu haben. Er schien ein ganz anderes
Konzept zu verfolgen.
Nach einer Stunde kam der Alte mit zwei Toast und hartgekochten Eiern.
Tonio und Gregor setzten sich auf die Mauer vor ihren Zimmern. Tonio
holte eine Flasche Portwein aus seiner Reisetasche und füllte ihre
Gläser halb. Er goß den Rest mit Soda auf.
"Sorry, Gregor, ich hab' dich nicht gefragt ob du überhaupt
willst. Ich ging einfach mal davon aus, dass dem so sei."
"Doch, doch schon gut. Du willst dich jetzt schlafen legen, so
eilig wie du zumachst, was?"
"Ja, unbedingt. Auf absehbare Zeit brauche ich erst mal meine Ruhe.
Ich kann keine Menschen mehr sehen. Aber jetzt will ich unbedingt noch
was rauchen. Baust du?"
"Yupp, gerne. Hast du noch Dope?"
"Ja, aber nicht mehr viel. Vielleicht noch fünf oder sechs
Gramm. Und ein bisschen Gras. Aber nicht der Rede wert. Taugt auch nicht
viel. Und wie sieht es bei dir aus.?"
"Noch weniger. Vielleicht zwei oder drei Gramm. Aber ich hab noch
massig Valium. Brauchst du noch welches?"
"Danke. Da besteht derzeit kein Bedarf, bin immer noch gut versorgt.
Aber gib mir mal ein paar Zigaretten. Die werden mir ziemlich knapp."
Sie rauchten und redeten und besprachen knapp ihre weitere Reiseplanung.
Sie kamen überein, zunächst erst mal hierzubleiben. Ein paar
Tage zumindest. Oder vielleicht auch ein oder zwei Wochen. Sie mussten
sich allererst wieder mit genug Dope und allem anderen eindecken. Denn
unterwegs, einfach so auf die Schnelle, war das doch ein eher schwieriges
Unterfangen. Sie tranken noch ein zweites Glas Portwein, dann beschloss
Tonio zu schlafen.
p.m.a.m?
Es klopfte leise. Tonio erwachte. Er setzte sich mühsam an den
Bettrand. Es war finster um ihn herum. Er hatte weder Raum- noch Zeitgefühl.
Aber es wurde ihm immerhin sogleich deutlich, wo er sein musste. Nach
einer Weile wagte er sich schließlich er zur Tür. Doch er
beschloss, sie nicht vorschnell zu öffnen: "Ja?"
"Ich bin's Gregor."
Tonio schloss auf. Es war Nacht.
"Na ja, es ist schon kurz vor zwölf und du bist nicht aufgetaucht
und da hab ich gedacht, ich bring' dir mal was zu essen vorbei, bevor
sie die Bar in ein paar Stunden dichtmachen."
"Ja, danke, ist nett von dir."
Tonio nahm ihm das Sandwich ab. Er verriegelte die Tür wieder hinter
sich und zündete eine Kerze an. Er aß am Tisch. Dann drehte
er sich noch eine Zigarette, er verwendete das gute Manali-Dope dazu.
Er streckte sich wieder auf dem Bett aus und rauchte. Zum erstenmal
bemerkte er nun ganz bewußt, dass ein großer Spiegel an
der Wand befestigt war. Er würde ihn allerdings so schnell nicht
brauchen. Wenn denn jemals. Dann schlief er wieder ein.
Gegen sechs Uhr erwachte Tonio. Er war unruhig und nervös, seine
Beinmuskeln waren verhärtet, fast schon leicht verkrampft. Er öffnete
liegend das Fenster, ein Schwall kühler Morgenluft sank auf ihn
herab. Er atmete ein paarmal tief ein und aus, dann erhob er sich, trat
vor die Tür. Die umgebende Atmosphäre war von geradezu verblüffender
Reinheit. Sie fühlte sich angenehm feucht an auf der Haut. Er setzte
sich auf die Mauer vor seinem Zimmer und riss sein letztes Päckchen
Filterzigaretten auf. Er nahm ein paar Züge, inhalierte tief. Er
wurder ruhiger.
Tonio roch nun auch das Meer. Er glaubte es sogar leise zu vernehmen.
Jenes monotone Rauschen, mit dem unzählige Wellen gegen den Strand
schlugen. Dann legte seinen Kopf in den Nacken und lehnte sich gegen
eine der harten kantigen Säulen, betrachtete eingehend den immer
heller werdenden Nachthimmel. Sterne. Sterne ohne Namen, Sterne ohne
Zahl. Für ihn konnten sie beides auch gar nicht besitzen. Sie leuchteten
schließlich. Sie waren was sie waren, ihr bloßer Eindruck
würde ihm immer genügen. Das blieb ihr unverrückbar Besonderes.
Mehr war da nicht zu begreifen. Er suchte wie immer vergeblich das Kreuz
des Südens. Denn er wusste weder wie es aussah, noch ob man es
von hieraus überhaupt erkennen konnte. Tonio musste lachen, weil
er solch ein Dummkopf war.
Dann rauchte er noch eine weitere Zigarette, jetzt würde er wieder
schlafen können. Also kehrte er zurück in das dunkle Zimmer
und warf sich erschöpft auf sein Bett. Back in Black. Er träumte,
er unterhalte sich sehr aufgeregt mit einer großen Menge verschiedenartigster
Personen. Er kannte die meisten von ihnen, hatte sie allesamt jedoch
schon lange nicht mehr gesehen. Woher kamen sie also, was konnten sie
von ihm, konnten sie voneinander wollen? Und noch während sie sich
hierüber unterhielten, lösten sich ihre Gesichter auch schon
wieder auf, gingen nach unbekannten Gesetzen ineinander über. Sie
zerflossen, verschmolzen. Sogar ihre widersprechenden Charaktere wurden
mit einem Male konturlos. Sie setzten sich dann aber sofort und ohne
jede Unterbrechung in völlig neuen, ihm jedoch gänzlich fremdartigen
Variationen wieder auseinander zusammen. Es wurde Tonio nun deutlich
bewusst , dass er sie also nur vermeintlich kannte, sie lediglich zu
kennen geglaubt hatte. Denn diese neuen Gestalten waren ihm schon nach
nur kurzer Zeit ebenso vertraut wie jene vormaligen, ungemischten. Aber
waren sie denn jemals wirklich ungemischt gewesen? Konnte man dies überhaupt
von ihnen sagen? Und dann schienen sie plötzlich verschwunden.
Er stand allein an einer abgelegenen Straße und wartete. Es war
jene Strasse auf der sie heute hierher gekommen waren. Worauf wartete
er? Darauf, dass sie wiederkämen? Wer sollte wiederkommen? Woher
sollten sie wiederkommen?
a.m.
Als Tonio zum zweiten Mal zu sich kam, mochte es gegen acht gehen.
Doch dies blieb ihm nur ein erstes Gefühl, ein ungefähre Vermutung.
Er lag noch eine Weile auf dem Bett und versuchte durch die genaue Beobachtung
des Lichtes, welches durch das schmutzige Rauchglas seines Fensters
fiel, die Zeit genauer einzugrenzen. Vielleicht gelang es ihm ja. Allerdings
konnte es auch schon Mittag oder sogar Nachmittag sein. Er hatte keinen
festen Maßstab. Krähen schrien. Menschliche Stimmen konnte
er hingegen nicht vernehmen. War es demnach doch früher am Tag?
Er gab es auf. Er hatte kein genaues Feeling heute morgen. Er sah auf
den Wecker. Es war halb zehn.
Tonio war mit diesem Umstand außerordentlich zufrieden und putzte
sich in gehobener Morgenstimmung ausgiebig die Zähne. Er versuchte
dabei zu pfeifen, was ihm aber trotz aller Anstrengung misslang. Dann
legte er sich wieder auf's Bett und zog den Walkman über. Er legte
sich J.J. Cale ein und drehte einen Joint an. Einen besseren Einstieg
in den Tag konnte es gar nicht geben. Cale und Sonne, Sonne und Cale.
Und von Arbeit keine Spur. Kein Zwang, keine Hektik. Kein Schichtbeginn.
Kein Akkord. Kein Einsteller, der schon wieder am rotieren war, weil
die Maschinen nicht korrekt anliefen und wie jeden Montagmorgen die
immer gleichen Leute nicht erschienen. Oder so arbeitskranke wie arbeitsgeile
Krankenschwestern, die ihr trauriges soziales Halbbewusstsein in Form
chronischer Rechtschaffenheitsbekundungen überdeutlich vor sich
hertrugen. Gewaschene Bauchladenmentalität. Und die auch noch meinten,
sie müssten ihre Aushilfsnachtwachen auf eine rational nicht nachvollziehbare
Weise für das seit Tagen absehbare Ableben ihrer Patienten persönlich
verantwortlich machen. Moralisch natürlich, nicht faktisch.
Wahrscheinlich hatten sie alle gerade einen fiesen Winterregen zu ertragen.
Die Schwestern wie die Einsteller. Kalt war es natürlich auch.
Und ein erbarmungsloser Wind jagte zwischen den grauen Wohnblocks hindurch,
die Wolkendecke seit Wochen fest verschlossen wie ein stählerner
Tresor. Kombination unbekannt. Vergessen. Alle Ersatzschlüssel
weggeworfen. Dann hörte Tonio auf, über das Elend jener Arbeitswelt
zu sinnieren, mit der ihn schließlich gerade nichts, aber auch
überhaupt nichts mehr verband.
Es fiel ihm ein, dass er immer noch nicht geduscht hatte. Das war also
das nächstliegende. Eine ungeheuerliche Herausforderung. Mehr als
genug zu tun für einen ganzen langen Tag. Zumindest in seiner Stimmung.
Er bemühte sich abermals zum Tisch und mischte eine neue Portion
Dope und Tabak. Dringend hieß es eine Lagermöglichkeit außerhalb
des Zimmers ausfindig machen. Sicher vor Ratten wie vor unbekannten
Nachbarn. Was in einigen Fällen auf das Gleiche hinauslief.
Tonio stellte sich in die Tür und rauchte einen zweiten Joint.
Dann begab er sich zum Brunnen und zog soviel Wasser herauf, bis sein
roter Plastikeimer endlich überlief. Er positionierte ihn eine
Stunde in der Sonne, das Brunnenwasser war zwar nicht wirklich kalt,
aber doch zu kühl für sein Empfinden. Anschließend wusch
er sich ausgiebig in seiner Zelle.
Zum trocknen nahm dann wieder seinen Platz auf der Mauer ein. Es roch
nach Seife und Shampoo. Er rauchte noch etwas Gras und begann wieder
zu dösen.
Von Gregor war nichts zu sehen. Tonio schnitt sich die Nägel, rasierte
sich und putzte noch ein zweites Mal ausgiebig die Zähne. Es war
schon wieder drückend heiß geworden. Zeit zu schwimmen oder
einen Mittagsschlaf zu halten. Ersteres schien ihm jedoch angebrachter,
sein Körper hatte genug gelitten durch die Starrheit letzten Tage.
Es war an der Zeit mit ihm wieder in näheren Kontakt zu treten.
Denn diese Verbindung verlor sich schneller als man es vermuten sollte,
wenn man nicht achtgab.
2 p.m.
Tonio begab sich nach vorn an die Bar und ließ sich von dem Alten
drei Flaschen Soda und ein Zitrone geben. Weit und breit war kein Mensch
zu sehen, sogar der Knochige hatte sich schon wieder ins Haus zurückgezogen.
Nur die Palmen, der Sand und die Hühner waren noch da. Grelles
Licht, wenig Schatten.
Er öffnete eine der Flaschen sofort, schüttete sorgsam etwas
Flüssigkeit ab und presste den Saft der Zitrone hinein. Er trank
sie gleich aus, stellte sie auf die zerkratzte Holzablage der kleinen
Höhle zurück, die anderen beiden nahm er mit zurück in
sein Zimmer.
Er nahm seine Tasche an sich, kontrollierte noch einmal flüchtig
ob er auch alles bei sich hatte, dann verriegelte er die Zimmertür
und wanderte auf's Geratewohl los. Das Meer konnte nicht weit sein.
Tonio ging quer über einige Dünen, der Sand hatte sich bereits
so erhitzt, dass er äußerst vorsichtig balancieren musste.
Er gab behutsam darauf acht, nicht aus den Sandalen zu rutschen, sonst
wurde es heikel, man fühle sofort einen stechenden Schmerz, wenn
man mit diesem glühendheißen Untergrund in Berührung
geriet. Das würde sich zwar mit der Zeit sicherlich legen, aber
vorerst waren seine Füße noch sehr empfindlich.
Braungrüne Grasbüschel wuchsen hier in Abständen als
kleine kniehohe Hügel, einige von ihnen hatte der feinkörnige
weiße Sand stellenweise zugeweht. Tonio wandte seinen Blick wieder
in Richtung des Landesinneren und betrachtete die zurückbleibenden
Palmen. Sie erschienen ihm selbst von dieser entfernteren Position aus
noch als riesig. Er liebte diese schlanke, nackte Form. Dieses fast
geflochten wirkende, schlichte Muster der Rinde, das sich so monoton
und ohne jede Unterbrechung steil nach oben zog. Mit der gefächerten,
groben Krone auf dem himmelwärts gebogenen Stamm. Plötzlich
war Tonio über die letzte Erderhebung weg, hatte den höchste
Punkt überschritten. Die Düne fiel in gerader Linie zum Strand
hin ab.
Vor ihm lag der Ozean. Das Licht war von einer solch gewaltigen und
blendenden Intensität, dass es ihm zunächst nicht gelingen
mochte, Farben, Konturen, überhaupt irgendetwas auszumachen. Fast
hätte man meinen können, die Helle entstiege dem Wasser selbst
und es erleuchte mit ihr den Himmel.
Es war jedoch nur ein grenzenloser Spiegel. Ohne allen Anfang und ohne
Ende. Wie es schien. Doch nein, es wurde nun allmählich die Wasserkante
sichtbar, eine schmale weiße Schnur, ganz und gar unspektakulär,
dünn, unterbrochen. Kleine träge Wellen drängten ohne
alle Kraft an die Küste heran. Rechterhand verlief sich die Küste
am Horizont. Tonio kehrte den Kopf nach links. In etwa drei oder vier
Kilometern Entfernung erhob sich ein zerrissener, steiniger Hügel.
Er schob sein gefurchtes Ende leblos und massig ins Meer hinaus, er
schloß den Strand in dieser Richtung ab.
Eine Fischerhütte war zu sehen, fünf Boote lagen unvertäut
und leicht zur Seite geneigt davor. Von den Fischern selbst war jedoch
nichts zu sehen. Tonio glaubte in der Ferne ein paar Menschen ausmachen
zu können. Es mochten Einheimische sein oder auch Touristen, das
war auf diese Distanz nicht zu unterscheiden.
Auf alle Fälle hatte er für sich genug Platz. Es würde
ihm in dieser Weite niemand zu dicht aufrücken. Und da gerade jetzt
Hauptsaison war, musste man mit einem plötzlichen Andrang an Menschen
nicht mehr rechnen. Weder vor den heuschreckenartigen Quellermännern
noch vor den blutsaugenden fliegenden Händlern in deren Gefolge,
musste er sich also fürchten. Dieses Land war wirklich einzigartig,
faszinierend, bunt. Aber die hygienischen Umstände schreckten die
meisten Reisenden jedoch ab. Tonio war sich allerdings, wenn er diese
endlose und vielfältige Landschaft auf sich wirken ließ,
sicher, dass in 20 Jahren hier nichts mehr so sein würde, wie es
jetzt noch war. Was da vor ihm lag war in gewisser Weise totes Kapital
und das konnte so nicht bleiben.
Tonio legte seine Tasche ab und warf sich ins Wasser. Er schwamm, bis
er langsam schwach zu werden begann. Dann breitete er sorgfältig
sein Handtuch aus und setzte sich erschöpft darauf nieder. Er schloss
die Augen. Er tastete nach einer der vorpräparierten Graszigaretten
und zündete sie an. Nach der intensiven körperlichen Anstrengung
brannten die ersten Züge in seiner Lunge wie Feuer. Dann begann
das Marihuana die Bronchien zu entspannen, er konnte jetzt besser inhalieren.
Das Zeug war wirklich Müll. Aber sie hatten auf die Schnelle nichts
anderes organisieren können. Immerhin, der Geschmack war angenehm.
Er holte nun doch noch sein Chillum heraus und befeuchtete das Tuch
umsichtig mit etwas Meerwasser. Er stopfte den gesamten Rest, den er
noch bei sich hatte pur hinein. Dann rauchte er und wartete auf den
Kick. So kam es schon deutlich besser.
Tonio legte die Hände hinter den Kopf und sah in den Himmel. Keine
Form, kein Halt mehr für das Auge. Leere. Freiheit. Was auch immer.
Er konnte und wollte jetzt nichts mehr tun und doch war er zutiefst
davon überzeugt, dass er sich gerade in diesen Momenten so kreativ
verhielt wie niemals sonst in seinem mickrigen bisschen Leben. Er hörte
auf, etwas Fixes zu wollen. Das vereinzelte Dasein erlosch mit einem
Schlag in ihm, er verschwand in einer Art von Wand, erlosch, ging auf
in der Umgebung. Die Zeit kehrte in sich selbst zurück, sie war
ausgesetzt, existierte nicht mehr. Die Welt stand nun still, ihr Oben
und Unten, ihre Grenze hatte sich verloren. Man hörte ihren schnellen
flachen, ihren alltäglichen Atem nicht mehr.
Tonio musste lachen. Eine ungeheure Welle der Heiterkeit stieg in ihm
auf, Ideen tanzten in Funken aus Licht auf ihr, er konnte sie einzeln
sehen, sie ergreifen. Ein bunter Mückenschwarm, Eindrücke,
Erinnerungsfetzen, Entwürfe. Das war die gelöste Phantasie.
Sie überwältigte ihn, wie ihm sonst sein Wissen immer nur
Formen vorzugeben schien, ihn in Verbindungen mit allem Endlichen zwang.
Er ließ sich treiben, träumte, begann mehr und mehr zu zerfließen.
Es mochte vielleicht eine Viertelstunde vergangen sein, denn ein gewisses
Zeitgefühl war ihm anscheinend geblieben, als ein Ruck ihn durchfuhr.
Er war sich nun seiner wieder bewußt, er hatte sich wiedergefunden.
Er setzte sich auf, denn er war, ohne es selbst bemerkt zu haben, in
eine liegende Haltung übergegangen. Tonio spazierte ein paar Schritte
auf und ab, dehnte sich und sah mit zugekniffenen Augen auf das Meer
hinaus. Es waren keine Boote in der Nähe, keine Schiffe in der
Ferne zu erkennen. Nichts tat sich da draußen. Weshalb nicht?
Er zündete sich noch eine Filterzigarette an. Sie schmeckte unglaublich
kalt, bitter und stark. Er gelang ihm, sie bis zur Hälfte aufzurauchen.
Und plötzlich fühlte er sich wieder so stoned, dass er sich
setzen musste. Eine gewaltige Faust drückte ihn wieder in den heißen
Sand.
|